Jürgen Zinnecker, geboren 1941, ist Professor für Erziehungswissenschaft und Sozialpädagogik an der Universität Siegen. Er ist Fellow am Kulturwissenschaftlichen Institut Essen (KWI) und Mitglied der dortigen Forschungsgruppe »Weltkrieg2Kindheiten«.
Interview: Ulrich Deuter
K.WEST: Günter Grass war bei Ausbruch des Kriegs zwölf, mit 16 musste er zum Reichsarbeitsdienst, zuvor war er Flakhelfer. Mit 15 meldete er sich freiwillig zur Waffe. 1944, mit 17, wurde er zur Waffen-SS eingezogen. Ihr Wissenschaftlerkollektiv forscht über Kindheit und Jugend im Zweiten Weltkrieg: über die Erlebnisse und deren Folgen. Inwieweit unterscheiden sich die Kriegserfahrungen junger Menschen von denen Erwachsener?
ZINNECKER: Man kann vier Jahrgangsgruppen unterscheiden. Je nachdem, in welchem Umfang diese Jahrgänge von der NS-Erziehung geprägt und, jedenfalls der männliche Teil, als Kämpfende in das Kriegsgeschehen einbezogen wurden. Die älteste Gruppe erlebt den Krieg als junge Soldaten. Die nächstjüngere Gruppe, etwa die Jahrgänge 1927 bis 1929, kann man Flakhelfer-Generation nennen, zu der gehört auch Grass. Eine dritte Jahrgangsgruppe durchlief, HJund BDM-konform, die Statuspassage vom Schulkind zum Jugendlichen und bildete »Hitlers letzte Reserve« bei Schanzarbeiten und im Volkssturm. Dann gibt es die Jüngsten, die bei Kriegsende noch unter zehn Jahren waren, also durch die Familie und nicht durch Nazi-Organisationen geprägt waren. Diese Jahrgangsgruppen sind in unserer Erinnerungskultur unterschiedlich vertreten. Grass gehört zu einer Generation, die sich auch als eine solche versteht und sich sehr früh lautstark zu Wort gemeldet hat. Als ihren Bezugspunkt nennt sie gern das Gruppenerlebnis der Flakhelferzeit, deswegen heißt sie auch so. Grass gehört zudem zu den Grenzfällen derer, die ganz zum Schluss noch zu Soldaten gemacht wurden. Zuletzt wurde da nicht mehr gefragt, sondern die jugendlichen Flakhelfer wurden teilweise sehr gewalttätig für die Waffen-SS rekrutiert. Grass hatte sich allerdings freiwillig gemeldet.
K.WEST: Grass schreibt in seiner Autobiografie »Beim Häuten der Zwiebel « hierzu: »Nichts gibt Auskunft darüber, was in einem 15-Jährigen vorging, der unbedingt kämpften wollte.« Was ging in einem kampfbegeisterten 15-Jährigen 1942 üblicherweise vor?
ZINNECKER: Das ist ja eine Altersphase, in der man Wege sucht, um erwachsen zu werden. Der Identitätswandel vom Kind zum Erwachsenen verläuft üblicherweise über die Berufsausbildung. Während des Krieges war nun die Wehrmacht der Ausbilder; in diesem Sinne war Grass’ Entscheidung konventionell. Wer etwas älter war, hat sich in der Wehrmacht regelrecht eine Karriere versprochen – Abiturienten z.B., die in den ersten drei siegreichen Jahren Soldaten waren. Die Armee war für sie weniger ein Vehikel, etwas für Deutschland zu tun, sondern ganz pragmatisch ein berufliches Sprungbrett. Und sie waren verärgert, wenn das nicht klappte. Bei den Kindern war das natürlich anders, aber auch sie versprachen sich vom Soldatwerden einen Status. Es ist überraschend, wie weit das in der Kriegszeit verbreitet war – übrigens nicht nur als deutsches Phänomen. Wir haben auch polnische Zeitzeugen interviewt, selbst bei damaligen Mädchen spielte es eine Rolle, als Partisan oder Soldat kämpfen zu können. Auch die waren enttäuscht, wenn sie aus Altersgründen nicht genommen wurden
K.WEST: Wie der 15-jährige Grass, den die Kriegsmarine als zu jung ablehnte.
ZINNECKER: Der Krieg war für junge Menschen eine faszinierende Möglichkeit, eine Identität zu gewinnen, Männlichkeit zu gewinnen. Man kann es vielleicht mit den frühen Karrieren, die man heutzutage im Sport machen kann, vergleichen. Insofern war das damals relativ normal, Mainstream. Grass war darin – manche sagen: er war es sein Leben lang – ein Mainstream-Mann. Er führt ja in seiner jetzt erschienenen Autobiografie mit dem 13-Jährigen, der er damals war, einen kritischen Dialog. Er fragt ihn: Warst du wirklich so angepasst? Und hat das noch etwas mit mir heute zu tun?
K.WEST: Aber er gibt sich selbst – und uns – darauf keine Antwort. Vor allem aber: Warum hört die Begeisterung für die Wehrmacht, die der junge Grass gewonnen hatte, nach den sicherlich desillusionierenden Erfahrungen bei der Flak und beim Reichsarbeitsdienst nicht auf? Gibt es darauf eine sozialwissenschaftliche Antwort?
ZINNECKER: Ich denke, es gibt einen Aspekt, der mit der Region zu tun hat, in der Grass aufwuchs. Dass Danzig nach dem Ersten Weltkrieg zur neutralen Stadt erklärt worden war, akzeptierten viele der dort lebenden Deutschen nicht, sie sahen Danzig als Vorhut des Deutschtums in einem »fremdvölkisch«, sprich polnisch überfluteten Land. Der Danzig-volksdeutsche Nationalismus hatte schon in den 20er und 30er Jahren zu einer Radikalisierung der Bevölkerung geführt, besonders unter den Jungen.
K.WEST: Grass wirft sich heute vor, dass er als Zwölfjähriger auf die Erschießung seines Onkels durch die Wehrmacht – er gehörte zu den polnischen Postbeamten, die die Danziger Post verteidigt hatten – nicht Warum gefragt hat. Gibt es kollektive Ursachen dafür, dass Grass junior nicht fragte?
ZINNECKER: Das reflektiert das Dilemma einer Gesellschaft, die einerseits gerade in dieser Region schon lange multi-kulturell war, im Fall von Grass’ Familie polnische und kaschubische Herkunftslinien besaß. Und die andererseits mit einer Ideologie vertraut war, die Reinrassigkeit als Garant für eine starke Nation propagierte. Das eugenische Denken war dabei gar nicht auf den Nationalsozialismus beschränkt, sondern seit dem 19. Jahrhundert gewachsen: Die Idee, jedes Volk müsse ein eigenes Territorium haben und dort reinrassig sein. Diesen Glauben finden wir in ganz Ost-Mittel-Europa. Die Kämpfe in Polen oder in der Ukraine verliefen ganz ähnlich, es ging immer um ethnische Säuberung: die anderen rausschmeißen aus dem eigenen Territorium und die eigenen Volksangehörigen »heimholen ins Reich«. Das war die Grundüberzeugung – so weit verbreitet, dass sie auch in einer Familie wie der von Grass normal gewesen sein wird. Solange es keine Konflikte gab, konnte man diese beiden Wirklichkeiten leben. Wenn aber ein Vorfall wie die Erschießung des Onkels eintrat, war Schweigen eine »Lösung« für diesen Widerspruch. Mal abgesehen davon, dass es mit Kriegsausbruch gefährlich wurde, darüber zu reden.
K.WEST: Schweigen als eine Art Übersprungsreaktion?
ZINNECKER: Könnte man sagen. Weil der Konflikt im Privaten nicht aufhebbar war.
K.WEST: Erinnern ist immer Konstruktion, selbst wenn sie nach bestem Wissen und Gewissen erfolgt. Grass findet in seiner Autobiografie für die Erinnerung zwei Bilder: die Zwiebel, die immer neue Schichten freigibt, und den Bernstein, der etwas einschließt: »mehr als uns lieb sein kann«. Nach welchem Muster vollzieht sich Erinnern?
ZINNECKER: Mit dem Bild der Zwiebel signalisiert Grass, dass er eine anspruchsvolle Form der Autobiografie wählen will, nämlich die reflexive. Wie weit er dem Anspruch genügt, ist eine andere Frage. Daneben gibt es einen Kern von relativ unberührten Erinnerungsbildern, vor allem aus früher Kindheit, die nicht sofort eine Deutung zulassen. Hier sind wir beim Bernstein. Diese Bilder sind oft sehr stark und verleihen einem Gewissheit, dass man sich nicht nur aus der Gegenwart heraus erinnert. Bei Grass gibt es offensichtlich visuelle Erinnerungen, die unvergesslich sind und ihm eine Stütze für das autobiografische Schreiben bedeuten. Wir können Grass als Schriftsteller und bildendem Künstler an dieser Stelle durchaus vertrauen.
K.WEST: Auffallend ist, dass Grass in der »Zwiebel« vieles sehr genau schildert, anderes, Schreckliches wie seine Teilnahme als Panzersoldat an dem Gemetzel in der Lausitz, bleibt pikaresk verkleinert, verursachte offenbar kein Trauma.
ZINNECKER: Die Erinnerung kann natürlich auch nachträglich traumatisieren, wenn sie delegitimiert wird. Und das ist ja dieser ganzen Generation passiert. Ihre Begeisterung und ihr Einsatz, auch mit ihrem Leben, wurden nachträglich für illegitim erklärt. Ein Kontrastmodell ist Polen, das wissen wir aus unserer eigenen kulturvergleichenden Arbeit. Die Polen, die beispielsweise für die Befreiung von Warschau gekämpft haben, sind heute als Veteranen noch stolz darauf. Die kennen diese Scham nicht, da wurde nichts im Verlauf des Lebens traumatisiert. Als Grass Soldat wurde, war er wahrscheinlich genauso stolz. Hinterher wurde dieser Stolz delegitimiert und mit Scham besetzt.
K.WEST: Irritierend in Grass Autobiografie bleibt die Vagheit der Berichte, wenn es um entscheidende Situationen geht, beispielsweise die Einberufung, von der er nicht mehr weiß, welche Waffengattung angegeben war. Der Historiker Ulrich Wehler hat das eine generationstypische Camouflage genannt. Stimmen Sie dem zu, dass da Grass mit etwas zurückhält, was er besser weiß?
ZINNECKER: Ich weiß nicht, ob er es besser weiß. Ich glaube aber, die Geschichte seiner Mitgliedschaft bei der Waffen-SS ist nur ein Beispiel; es gibt sicher viele belastende Geschichten, die er, um sein Selbstbild zu schonen, entweder vergessen hat oder aus taktischen Gründen verschweigt, denn er ist ja im Grunde ein narzisstischer Typ, ein gekonnter Selbstdarsteller, der weiß, was er seinen Lesern schuldig ist. Da kann er bestimmte Dinge nicht erzählen, das würde seine treuen Leser verwirren und verärgern.
K.WEST: Grass Autobiografie ist sonderbarerweise beides: Abrechnung mit sich selbst als jungem Menschen, der sich habe verführen lassen. Und eine subtile Form des Verhaftetbleibens in früheren Wahrnehmungs- und Denkmustern während des Erzählens: Er ist enttäuscht über die Ausbildung bei der Waffen-SS, Paul Celan erscheint ihm immer noch befremdend ängstlich, Rassismus lernt er erst bei den Amis kennen. Wieweit ist man, wenn man sich erinnert, immer gefangen in den alten Wahrnehmungen?
ZINNECKER: Da können wir Grass an seinen eigenen Ansprüchen messen. Er gibt uns als Autor autoritativ vor, an welchen Stellen er die Zwiebel schälen möchte. Und an anderen Stellen schreibt er eine ganz naive Autobiografie, nach dem Muster popularer Autobiografien. Im Vorspann werden dort gern die reflexiven Selbstansprüche gestellt, um den Debatten der Gedächtnisforschung genüge zu tun. Und im Buch selbst wird alles vergessen und hemmungslos loserzählt. Man muss nicht, wie Grass es tut, das Kind, das man war, neben sich stellen und als Erwachsener befragen. Man kann auch identifikatorisch in die Haut des Kindes schlüpfen, wenn man den Mut hat, den Hitlerjungen oder den Waffen-SS-Jüngling in sich wiederzubeleben. Und das, glaube ich, kann Grass nicht. Dazu wäre es nötig, nicht nur die einzelnen Szenen zu beschreiben, sondern das ganze Denken, die ganze Ideologie von damals mit zu ergreifen. Das zu tun, dazu ist er ein viel zu narzisstischer Erwachsener. Da gibt es ehrlichere Autobiografien. Am besten gelingen übrigens die, die Originaldokumente verwenden, Briefwechsel der Eltern etwa. Die können dann zu Realitätsankern werden, die eine wirkliche Prüfung der eigenen Geschichte ermöglichen, um deren Überdeckung durch das Heute zu unterlaufen. Das hätte Grass ja vielleicht auch tun können. Möglicherweise hat ja er, der schon früh schrieb, Tagebuch geführt?
K.WEST: Grass schreibt, »nachwachsende Scham« habe ihn gehindert, früher von seiner Mitgliedschaft in der Waffen-SS gesprochen zu haben. Was kann das meinen, nachwachsende Scham?
ZINNECKER: Vielleicht muss man sich, um das Wort zu verstehen, vor Augen halten, dass die Erinnerungskultur nach 1945 sich erst allmählich gegen Widerstände und widrige Zeitumstände entwickeln konnte. Vorab kam die »Vergangenheitspolitik« der Adenauer-Ära mit Entschädigungen und Appeasement-Bestrebungen, danach erst wuchs eine Kultur des Erinnerns, als Erlernen des politisch korrekten Umgangs mit der Vergangenheit. Die Maßstäbe dabei haben sich kontinuierlich verschärft. Einer der so wach ist wie Grass, wird mitbekommen und verinnerlicht haben, dass seine Geschichte mit der Waffen-SS über die Jahrzehnte in Deutschland immer kritischer beurteilt würde.
K.WEST: Grass berichtet uns, dass den Jungen – ihn selbst – an der Nazi- Ideologie keinerlei Zweifel befielen, dass er Auschwitz erst für wahr hielt, nachdem Baldur von Schirach, der ihm damals noch immer eine Autorität war, dies in Nürnberg zugab. Ohne Beschreibung irgendeines Prozesses ist dann auf einmal, wohl im Winter 46/47, sein »Jungnazitum gründlich ausgeschwitzt«. Wie verkraftet ein junger Mensch, der im Dritten Reich sozialisiert war, die Ablösung von der Nazi-Ideologie?
ZINNECKER: Hier besteht ein Unterschied zwischen Jugendlichen und Kindern: Wer 1945 zehn Jahre alt und jünger war, der erwarb schnell ein sehr positives Bild der Sieger, von GIs, von Amerika und der amerikanischen Kultur. Während diejenigen, die älter waren, also zur Hitlerjugend- oder Flakhelfergeneration gehörten, sehr lange ein ambivalentes oder negatives Bild der Siegermächte und insbesondere der Amerikaner behielten. Der sogenannte Anti-Amerikanismus in Deutschland ist also nur in bestimmten Alterskohorten verankert. Die Generation der jüngeren Kriegskinder begeisterte sich stattdessen an der amerikanisch geprägten Pop-Rock-Kultur der 1950er Jahre.
K.WEST: Was war das, was es einem nicht möglich machte zu sagen, ich war auch in der NSDAP oder in der Waffen-SS? Neben Grass haben ja auch Intellektuelle wie Günter Eich, Walter Höllerer, Peter Wapnewski, Walter Jens, Martin Broszat ihre jeweilige NS-Belastung »vergessen«.
ZINNECKER: Nach dem Krieg bestand jede Möglichkeit, sich eine neue Identität aufzubauen. Besonders für Junge. Man musste sich positiv als Demokrat outen; wenn man das tat, war alles in Ordnung. Die Jugend, das betonen Entwicklungspsychologen immer wieder, ist die Phase, in der wir unsere private, personale wie auch unsere politischgesellschaftliche Identität formen. Das ist die erste und eine sehr feste Identität, die man nicht einfach wegschieben kann. Die haben ja nicht einfach nur mitgemacht, sondern die waren mit ihrer ganzen Person in den Nazismus verwoben! Und gerade Abiturienten taten sich jetzt nach 1945 schwer, weil sie oftmals innerlich, mit ihrer Identität, am stärksten mit dem System verwoben waren. Man vergisst gern, dass es gerade die intellektuellen Gruppen sind, die am intensivsten mit dem jeweiligen politischen System verknüpft sind, selbst wenn sie darin keine Funktionen innehaben. Die Feuilleton-Debatte um Grass ist also auch eine Debatte um »uns«, um die Gruppe der Gebildeten. Ihre Verantwortung, ihre Moral, ihre Fehler. Man spricht über sich selber, wenn man auf Grass eindrischt oder ihn verteidigt.
K.WEST: Wie hätte eine gelungene Vermittlung zwischen der eigenen Verwicklung in den Nationalsozialismus und einer späteren Erkenntnis der Falschheit dieser Erfahrung aussehen können?
ZINNECKER: Ich wage die These, eine gelungene Vermittlung war in der Nachkriegs-Bundesrepublik gar nicht möglich. Es gab nur biografisch brüchige Kompromisse. Die Generation der Flakhelfer hatte kaum Chancen, in den ersten Nachkriegsjahrzehnten mit der Vergangenheit offen und ehrlich abzurechnen. Das ist eine besondere Tragik dieser Generation. Nach 1945 musste man sich sehr schnell entscheiden, den neuen Weg der bundesrepublikanischen Gesellschaft mit zu gehen. Wenn man bereit war, über die nationalsozialistische deutsche Vergangenheit nicht mehr allzu präzise nachzudenken und nach vorn zu sehen, wurde das gesellschaftlich belohnt. Grass als ein lebenskluger und erfolgreicher Vertreter dieser Generation hat das richtig erkannt. Das Schweigetabu lag damals über dem ganzen Westen. Selbst die Verfolgung und Vernichtung der Juden war bis Anfang der 1960er Jahre Tabuthema in Deutschland, USA und Israel. Die halbherzige und späte autobiografische Erinnerung von Grass sollte in erster Linie Anlass geben, sich über die halbherzige und verspätete Erinnerungskultur in der deutschen Nachkriegsgeschichte Gedanken zu machen. //
Günter Grass liest aus »Beim Häuten der Zwiebel« auf Einladung der RuhrTriennale am 11. Oktober um 20 Uhr in der Gebläsehalle, Landschaftspark Duisburg-Nord