// Irland; heute. Eine Familie, die Hegartys, ursprünglich vierzehnköpfig. Noch am Leben: die Mutter, 70, und zehn der Kinder. Nein, neun: Soeben hat sich Liam, 40, umgebracht, in England – er war ein Jahr älter als Veronica, die Erzählerin. Der Tod des Bruders ist ihr Anlass, sich in die Familiengeschichte zu graben: in ihre Kindheit, ja, bis in die Jugendzeit der Großmutter, Ada, in deren Haus und Obhut sie und Liam lange Zeit lebten. Anlass, jenes Geheimnis aus ihrer Erinnerung zu kratzen und zu sieben, das vielleicht das Leben ihres Bruders prägte und zerstörte: ein Missbrauch.
Besser wäre es allerdings, man könnte ein Referat des Plots vermeiden. Er klingt so schlicht und zeitgeistverhaftet. Andererseits führt jedes Erzählen über Familien zwangsweise auf dieselben Pfade, und in jeder Familie gibt es irgendeine Art von Missbrauch, es muss kein sexueller sein. Wie dem auch sei: Der Plot dieses Buchs, sein Setting ist nur ein knappes, vielfach benutztes Backrezept. Eine Zutatenangabe, ohne die man nun mal nicht auskommt. Der Roman selbst aber erhebt sich darüber – nun, wie ein Meisterwerk der Konditorkunst über das schlichte Häuflein seiner Ingredienzien. Anne Enrights »Familientreffen« ist ein vollendetes Blätterteiggebäck. Ich meine damit: Lauter feine, auf den ersten Biss deutlich voneinander zu unterscheidende Schichten: die Jetztzeit zum Beispiel. Man kostet ihren feinen, erlesenen Geschmack, aber da vergeht sie schon und eine andere Schicht bricht durch, das Früher. Und die nächste. Oder Sprachblättchen: eines das Unmittelbarkeit herstellt, etwa. Und kaum, dass es sich ein wenig ausgebreitet hat, gleitet ein anderes auf die Zunge, das einen ironischen Abstand herstellt. Und wieder ein anderes, das einen als Leser direkt anspricht. Bevor die Erzählstimme wieder anonym wird. Oder die Beschreibung eines der erwachsenen Familienmitglieder. Über die sich flugs, sozusagen mit einem köstlichen Knistern des Blätterteigs, das Bild des Geschwisters als Kind legt. Wie wohlschmeckend sich alle dies Facetten in der einen einzigen Erzählstimme, der Veronicas, verbinden, das ist meisterhaft. Das ist ein Ess-, will sagen ein Leseerlebnis ganz unvergleichlicher Art. Weswegen der Originaltitel des Romans, »The Gathering«, auch etwas besser passt.
Aber nichts gegen die Übersetzung von Hans-Christian Oeser, auch sie ist exzellent. Und so finden sich in Anne Enrights jüngstem Roman (für den sie 2007 den Man-Booker-Preis bekam, die wichtigste Auszeichnung für englischsprachige Literatur) fast ausschließlich Sätze, die man zweimal, dreimal lesen möchte. Und das auch tut. Man kommt gar nicht voran. So wie der Roman selbst gar nicht voran kommt, und das will er auch nicht, er will keine Story abarbeiten. Er will sich seiner selbst vergewissern. Es gibt wenig Romane, die so vollendet, so dicht, so rauschhaft erzählen, ohne dass sie auf der Zeitebene so wenig Tempo machen.
Veronica ist im Haus ihrer Mutter gewesen, um ihr die Nachricht von Liams Tod zu überbringen, in dem Haus, in dem sie auch Kind gelebt hat, einem Haus, »das nur aus Anbauten besteht.« Und dann fährt Veronica zum Flughafen, um nach England zu fliegen, um die Überführung des Leichnams zu regeln. Aber die Fortsetzung dessen findet sich erst ganz am Ende des Buchs. Und dazwischen sind wir, ohne dass ein Bruch spürbar wäre, in den 1920er Jahren, als Oma Ada ihren späteren Mann Charlie sowie ihren ewigen Verehrer Lambert kennen lernt, der irgendwann Liam missbrauchen wird. Oder war Lambert bloß Adas aufdringlicher Hauswirt? Denn natürlich passiert jene ferne Kennenlernszene nur in Veronicas Vorstellung. So wie vielleicht auch jener Missbrauch. Und inzwischen sind wir bei Veronicas Nachtwachen, in denen sie schlaflos in ihrem Saab durch Dublin fährt. Bei der Totenwache, bei der all die restlichen Geschwister mit ihren Macken und Mätzchen und in ihrer uralten Fremdheit sich um Liams Leiche versammeln und wie Verhungernde essen. Und trinken. Und wir sind in der Ehe Veronicas mit ihrem »wartungsaufwendigen« Mann Tom, an dessen Körper sie nicht mehr glaubt. Bei ihr und ihren beiden Töchtern. Wir erfahren eine Menge viel über Kinderreichtum, und darüber, wie es ist, Kind gewesen zu sein. Und wie, Frau zu sein, Mutter zu sein, alt zu werden, Sex zu haben. Wie man sich selbst wahrnimmt. Und andere. Und wie fern man den andern ist und wie sehr an sie geklebt. Wir lesen lauter Sätze über Situationen, die jeder von uns kennt: wie das ist als gerade jetzt lebender Mensch. Situationen, die mit ein paar Worten hochauflösend genau getroffen werden, aber so dastehen, so ernst und so komisch, dass sie wie nie zuvor erlebt aussehen.
»An einem Tag, bevor Liam starb, öffnete ich den Mädchen die Autotür, und als sie aufschwang, sah ich im Wagenfenster mein Spiegelbild. Dann war es verschwunden, und während die Kinder ausstiegen, blickte ich in die dunkle Höhle des Wagens oder bückte mich wieder hinein, um irgendwelchen pinkfarbenen Plastikkram aufzuheben. Als ich die Wagentür zuschlug, schoss das Spiegelbild zurück. Aus kontrastreichen Wolken brach die Sonne, der Himmel in der Fensterscheibe war von einem wunderbar dichten Blau, und im Vorüberhuschen malte sich in meinem dunklen Gesicht die Spur eines Lächelns. Und ich weiß noch, wie ich dachte: ›Ich bin also glücklich. Schön zu wissen.‹«
Glücklich, wer dieses Buch erst noch vor sich hat. //
Anne Enright: Das Familientreffen. Aus dem Englischen übersetzt von Hans-Christian Oeser.
Deutsche Verlags-Anstalt, München 2008. 343 S., geb., 19,95 €.