Akribische Archivarbeit und eine sichere Hand für wohldosiert aufgetragenes Zeitkolorit zeichneten schon Steffen Kopetzkys vor vier Jahren erschienenen historischen Roman »Risiko« aus. Darin verhandelte er eine gescheiterte deutsche Afghanistan-Expedition während des Ersten Weltkriegs. »Propaganda«, der neue Roman des 1971 geborenen Schriftstellers, entfaltet sich nun vor den Kulissen des Zweiten Weltkriegs. Kopetzky löst darin erneut meisterhaft die Grenze zwischen historisch Verbürgtem und Erfundenem auf und lässt neben seinem Ich-Erzähler John Glueck auch Charles Bukowski, J. D. Salinger, Ernest Hemingway und den deutschen Arzt Günter Stüttgen als humanitären Helden durch den Kampf irren.
Die Schreibmaschine als Waffe
John Glueck, Sohn einer deutschstämmigen Auswandererfamilie, ist am Vorabend des Kriegsendes mit der US-amerikanischen Truppe in Europa unterwegs. Er versieht seinen Dienst nicht an der Waffe. Glueck arbeitet für das Department of Psychological Warfare, in einer Einheit für psychologische Kriegsführung. Die Schreibmaschine ist seine Waffe, denn er fabriziert Geschichten für eine deutschsprachige Propaganda-Zeitung, die die Amerikaner in Millionenauflage über dem deutschen Reich abwerfen.
Glueck hat den Auftrag, den Star-Schriftsteller Ernest Hemingway an der Front ausfindig zu machen und eine moralisch erbauliche Titelgeschichte über »Papa Hem« im Krieg gegen die Nazis abzuliefern. Doch als er Hemingway in Frankreich aufspürt, trifft er einen dauerbetrunkenen und schreibgehemmten Mann, der zum Kriegsmoral belebenden Coverboy nicht taugt. PR-Leutnant Glueck zieht weiter Richtung Hürtgenwald in der Nordeifel, wo die US-Armee eine Offensive gestartet hat. Die Amerikaner werden die Schlacht später »Death Factory« nennen: Todesfabrik. Denn sie ist als eine der brutalsten in die Annalen der Militärhistoriker eingegangen.
Erinnerungen an den Ersten Weltkrieg
Steffen Kopetzky schildert die Brutalität des Krieges drastisch und eindrücklich, und er spiegelt diese verbürgten Ereignisse auf einer zweiten Erzählebene. Die Rahmenhandlung spielt 1971, in dem Jahr, in dem amerikanischen Zeitungen Auszüge aus den Pentagon Papieren veröffentlichten. Diese geheimen Dokumente des US-Verteidigungsministeriums belegten, dass das Weiße Haus die amerikanische Öffentlichkeit über die Planung und die Ziele des Vietnamkriegs bewusst getäuscht hatte. Zu dieser Zeit sitzt Glueck in Missouri im Gefängnis und schreibt seine Erinnerungen an den Einsatz im Zweiten Weltkrieg nieder.
Zunächst ist nicht klar, wie die beiden Zeitebenen, 1944 und 1971, miteinander verknüpft sind. Im Verlauf des Romans zeigt sich dann, dass Glueck aus Vietnam nicht nur eine unheilbare Hautkrankheit mitgebracht hat, sondern auch die Einsicht, dass es an der Zeit ist, die US-amerikanischen Militäreinsätze nicht mehr mit PR-Geschichten zu flankieren. Denn Propaganda, so heißt es im Roman, interpretiere nicht mehr »unsere Wirklichkeit in einem bestimmten Licht. Sie schafft sie.« Der PR-Geschichtenschreiber Glueck ist zum Whistleblower geworden.
Dass die Wahrheit das erste Opfer des Krieges ist, ist hinlänglich bekannt. Glücklicherweise ist Steffen Kopetzky so klug, nicht einfach nur eine Binsenweisheit in Romanform zu bringen. Raffiniert knüpft er die Handlungsfäden zu einem brillant erzählten Roman über das kriegstraumatisierte 20.Jahrhundert. Wer mag, kann im Spiegel dieser intelligent unterhaltsamen Geschichte selbstverständlich auch schemenhaft unsere von Propaganda geprägte Zeit erkennen.
Steffen Kopetzky: »Propaganda«, Rowohlt Berlin, 2019, 496 Seiten, 25 Euro
Lesungen am 11. November im Zeitmaul-Theater in Bochum, am 12. November in der Stadtbücherei Münster und am 15. November in der Aula Carolina in Aachen