TEXT: ANDREAS WILINK
Bereits im Frühjahr 2005, beim letzten Solo-Durchlauf der Dortmunder »femme totale«, ließ der erstmals ausgelobte und mit 25.000 Euro nicht knapp bemessene Spielfilmwettbewerb eine erstaunliche Qualität erkennen. Zu dem halben Dutzend Filmen gehörten u.a. aus Österreich Jessica Hausners »Hotel« und Cate Shortlands australischer »Somersault«, die sich international profilierten. Nun folgt Jahr Eins der neuen Zeitrechnung. Die kulturpolitisch lang diskutierte Zusammenlegung der beiden eigenständigen, jeweils in den achtziger Jahren gegründeten Frauenfilmfestivals, dem Dortmunder und der Kölner »feminale«, ist nun erfolgt. Sie werden alternierend in der rheinischen und in der Revier-Stadt ausgetragen. Die gemeinsame soll eine gesicherte Zukunft garantieren.
Die Veranstalterinnen bleiben bei ihrem erfolgreichen Programm-Prinzip. Der sich mit acht Filmen präsentie- rende internationale Debüt-Wettbewerb 2006 ist zwar nur noch mit 10.000 Euro dotiert (und von der Sparkasse KölnBonn gestiftet; hinzu kommt ein Publikumspreis), aber der »Horizont« – um den Titel der Festivalsektion aufzunehmen – ist wieder weit gesteckt. Filme von Frauen über Frauen: Spurensuche von Berlin bis Peru, vom Iran nach Indien, Vietnam und Australien.
Ein Dorf in Peru in der Osterwoche, durch Überschwemmung von der Umwelt abgeschnitten. Ein Fremder kommt in den Ort und bleibt hängen. Der junge Mann ist unwillkommen während der Feiertage von Tod und Auferstehung Jesu, die die Bewohner in christlichheidnischen Ritualen begehen. Eine Jungfrau wird gekürt, die als geschmücktes Idol in einer Prozession die Mutter Gottes darstellt und einen hölzernen Heiland wie eine Pietà in den Schoß nimmt. Die Ehre, den Passionsweg prominent zu begleiten, trifft auf die Tochter des Bürgermeisters, Madeinusa. Mit Mühen hat sie sich ihre Unberührtheit gegen den Zugriff des Vaters bewahrt – anders als die ältere Schwester. Nun, an den Tagen zwischen Karfreitag und Ostersonntag, deren Ablauf ein Alter auf dem Dorfplatz mit einem Kalender registriert, ist die Sünde gewissermaßen exkulpiert. Denn das Auge des Herrn, der hinabgestiegen ist in das Reich des Todes, kann nicht sehen, was geschieht. Madeinusa gibt sich dem Gringo hin, weil sie an ein Zeichen glaubt, als sie auf seinem Shirt die Buchstaben ihres Namens zu lesen glaubt: Made-in-USA. Sie wird ihren Vater mit Rattengift vergiften und das Dorf verlassen, um nach Lima zu gehen, nachdem die Schwestern den Fremden gellend des Mordes verklagen. Sein Schicksal bleibt ungewiss.
»Madeinusa« von Claudia Llosa kleidet sich in den Stoff eines antikischen Dramas und gestaltet die Zwangsläufigkeit, den schweren Gang der Handlung und die magisch- heilige Atmosphäre mit ihren symbolischen Ordnungen und Verweisen auch ästhetisch überzeugend. Das Täter-Opfer Madeinusa hat mehr Schuld auf sich geladen als die biblische Magdalena.
Ihre vietnamesische Schwester heißt Ly An. Sie ist die »Bride of Silence« (Regie: Minh Phuong Doan). Wieder haben die Dämonen das Wort, die Götter eines Dorfes von Töpfer-Handwerkern wollen, so befinden die strengen Orakeldeuter, ein Opfer, als Ly An »in Sünde« ein Kind zur Welt bringt und den Vater verschweigt. Das Neugeborene wird ausgesetzt, die Mutter verstoßen, die Jahre vergehen – und das zum jungen Mann heran gewachsene Findelkind zieht aus, seine Herkunft zu ergründen. Im Stil einer dunklen Sage, schön wie die Aquarelle eines Alten Meisters und in komplizierter elliptischer Erzähltechnik rollt sich das Drama von Mutter und Sohn auf. Größer könnte der Zeitsprung kaum sein, als von dieser archaischen Welt nach Japan, das in der Gefühls-Groteske »Three Years Delivery« (Regie: Miako Tadano) ins Surreale changiert. Fuyuko ist schwanger – aber das Kind kommt nicht zur Welt. Neun, 18, 27 Monate vergehen, das Baby gibt längst Laut aus dem mächtig geschwollenen Bauch. Den Leuten erscheint die endlos werdende Mutter schon wie ein Monster, auch der Kindsvater und Ehemann schaut mit Befremden, mutmaßt ein Alien. Aber Fuyuko hat sich eingerichtet in ihrer Symbiose wie eine lyrische Rilke-Figur. Irgendwann ist der Sohn da – als Zweijähriger die Welt begrüßend. Und hat in biologischethischer Umwertung die Spielregeln einer Spaßgesellschaft entkräftet.
Vielleicht sind Engel sehr traurige Geschöpfe, die eine Aufgabe zu erfüllen haben, nach deren Erledigung sie verloren zurück bleiben. Vielleicht ist Cristina, das Mädchen aus dem Süden Chiles, ein Engel, im Gewand einer Pflegerin, die bei einem alten Mann in Santiago lebt, bis der Kranke plötzlich stirbt. Im Müll hatte sie zuvor die Aktentasche eines gewissen Tristán gefunden, der so ist, wie er heißt: traurig und wie aus der Welt und ihren Zusammenhängen gefallen. Mit Hilfe persönlicher Dinge, die der Koffer enthält, nimmt sie seine Lebensspur auf, heftet sich an seine Fersen und tritt an sein Bett, als er knapp dem Tod entrinnt. Wie aus einer außerirdischen Positi on schaut Alicia Scherson auf ihre Figuren in »Play«, die sich durch bunte Räume bewegen, kontaktreduziert sind und wie mit dem Kaurismäki-Bann des Schweigens belegt scheinen. Die Gegenwart, die Japan und Chile hier von sich entwerfen, lässt wenig Hoffnung darauf, dass Engel in ihr einen Ort haben.
Berlin feiert, aber das Partygirl Valerie hat keinen Platz in der Herberge. In dem deutschen Film »Valerie« von Birgit Möller ist das Kirchenjahr bei Weihnachten angelangt. Im feinen Hyatt erschleicht sie sich ein Zimmer samt Platz in der Tiefgarage für ihr Auto, in dem all ihr Besitz verstaut ist. Schöne Kleider, die das Model aus Polen (Agata Budzek – zart und hell wie eine Zeichnung von Léonore Fini) aus besseren Tagen hat und die sie an sich zur Geltung zu bringen versteht. Mittlerweile würde sie selbst einen Job als Hostess akzeptieren – aber auch dieses Angebot bleibt aus. Valeries ungültige Kreditkarte fliegt auf, sie hat keinen Cent mehr, kann nicht mal das Parkticket einlösen. Sie streunt umher, schläft mit dem Fotografen, der mit ihr eine aktuelle Serie knipst, macht einen Mann in der Hotelbar an, in der Hoffnung auf eine Mahlzeit und ein bisschen Geld gegen Sex, verbringt die Nacht in einer miesen Kneipe, bis der Laden dicht macht. Und versucht, wenigstens in ihrem Auto Schlaf zu finden. Ein blinder Passagier im Beton unter Tage. Wie ein modernes Andersen-Märchen erzählt sich – knapp, kühl und ohne Zuviel an Gewicht und Gefühl – die Geschichte vom schönen Schwan, der nur ein armes Entlein ist. Lakonisch auch fällt die Begegnung mit dem Parkhauswächter André (Devid Striesow) aus, für den die bürgerliche Existenz auf andere Weise brüchig wurde, und entwickelt sich mit aller Vorsicht als Möglichkeit für beide. Die Lichter der Großstadt spenden ansonsten keine Wärme.
Das ist in »On a Friday Afternoon« (Iran) ganz anders. Die Menschen gehen zuvorkommend und hilfsbereit miteinander um. Eigentlich könnte man die Geschichte einer verlorenen Tochter unter dem biblischen Begriff der »Heimsuchung« fassen, wie das Lukas-Evangelium ihn als Besuch Marias bei Elisabeth schildert – ohne dies als kulturellen Übergriff des Westens zu meinen. Nach 15 Jahren macht sich die jüngere Schwester auf, die verschwundene ältere zu suchen, die als ledige Mutter eines »Bastards« vom Vater und der Gemeinschaft verstoßen wurde und sogar im Gefängnis ihren Fehltritt abbüßte. Sie nennt sich nun Sogand, hat ihr Leben in die Hand genommen, doch mit dem halbwüchsigen Sohn Omid, der mit sich im Unreinen ist, größte Schwierigkeiten. Während sie sich überwindet, mit der Familie aussöhnt und endlich von dem seelischen Druck befreit, dass es ihr Onkel war, der sie damals vergewaltigt hat, wiederholt sich das Muster der Abwehr auch bei Omid. Er kann sich von der Qual, ein ungewolltes Kind zu sein, nicht lösen – und bleibt in der Verweigerungshaltung.
In dem von Mona Zandi Haghighi imponierend einfach erzählten, bildmächtigen, komplexen Film liegen unter der Oberfläche des Konflikts traditionelle Strukturen und Maßstäbe von Ehre und Anstand wie sich nicht abbauende Schadstoffe. Der letzte Blick Omids dringt durch die Gitter seiner Zelle nach draußen: Und hinter 1000 Stäben doch eine Welt! Dann folgt das Schlussbild: ein in die Ferne brausender Zug lässt die Gleise aussehen, als liefen sie ins Leere.
Auch Shonali Boses »Amu« endet mit einem sich langsam entfernenden Zug – wiederum Symbol einer neu auszuschreitenden Lebensstrecke. Über die Gleise geht mit ihrem Freund Kabir das Mädchen Kaju, die als Dreijährige bereits an diesem Ort war. Damals ein Schreckensplatz, als 1984 nach der Ermordung Indira Gandhis in Delhi Hindus mit offizieller Duldung ein Blutbad unter den Sikhs anrichteten. In der indischen Bartholomäusnacht verlor Amu ihre Familie. Als Adoptivkind aus den Slums, das von der Vergangenheit nichts wissen sollte, lebte sie in den USA. Ihre Passage to India wird zur Erkundung der eigenen Herkunft und der Tabuzonen einer gespaltenen Gesellschaft. Kaju/Amu, die sich instinktiv fremd fühlt, erlebt in dem melodramatisch perfekt austarierten Film während ihres Besuchs bei den wohlhabenden Verwandten die sozialen Spannungen des Landes als Teil ihres inneren Zwiespalts.
»Look both ways« (Australien) hingegen beginnt mit einem fahrenden Zug. Ein Unglück geschieht, ein Kind kommt unter die Gleise – und eine weitere blutige Karambolage ereignet sich in einem Bahntunnel. Man könnte Sarah Watts Mosaik menschlicher Schicksalsbegegnungen einen Katastrophenfilm nennen. Der Tod begleitet die mit dem Geschehen alle irgendwie verbundenen Figuren auf Schritt und Tritt – gewandet als Krankheit, Eltern-Sterben, als Frage nach ungeborenem Leben, als Schuldgefühl, Verantwortlichkeit oder Zufälligkeit. Formal greifen die dramaturgisch etwas mühsam konstruierten Short Cuts zu einem frappierenden Kniff. In kurzen Flashbacks wischen wie von William Kentridge entworfene Animations- Schnipsel von Todesvisionen oder Foto-Montagen geraffter Erinnerungsbilder durch die Handlung, um den Brain-Clash der Personen in eben dem Moment zu visualisieren. Ein wiederkehrendes Motiv der Wettbewerbs-Auswahl ist der Konflikt von Tradition und Moderne, Stadt und Land und die Spannung zwischen einem den Figuren eingeschriebenen inneren oder äußerlich aufgeprägten Gesetz und einer oft ambivalenten Befreiung aus diesem Zwangssystem. Es sind Geschichten, die keine Verstärker und keine Hilfsmittel brauchen – und Drehbücher, die es wert sind, dass jemand die Kamera zur Hand nahm.
11. bis 15. Oktober 2006, Köln; www.feminale.de