TEXT: ULRICH DEUTER
Es gibt keine umfassendere Stille, als wenn anhaltender Lärm abbricht. Dieses Erlebnis währt normalerweise nur einen Moment lang, doch es gibt Orte, an denen es gewissermaßen Stein geworden und auf Dauer gestellt ist: die Hochöfen in Meiderich etwa, die Kokerei Hansa, die Zeche Zollverein – die Zeugnisse der Industriekultur. Zum Schweigen gebracht und aus dem Zweckzusammenhang gefallen, für den ihre Architektur errichtet wurde, strahlen diese Orte nun ein melancholisches Erstaunen aus, eine Dornröschen-artige Stille, als warteten sie auf den Kuss, der ihre Schönheit erkennt.
Ein solcher Zauber liegt auch auf manchen Formationen der Industrienatur: Jahrzehnte nach dem Absterben der Hand, die sie brutal aufwarf, überraschen diese Nutzlandschaften mit einem Reiz, der ihnen nie zugedacht war und den man von ihnen nie erwartete. Das Parallelgewässer Emscher/Rhein-Herne-Kanal ist eine solche Idylle, Beispiel eines dritten Landschaftstypus neben Wildwuchs und Park. Auf dem Streifen zwischen beiden Wasserläufen, wo das Wandern nur in zwei Richtung möglich ist, auf der einen Seite den Deich der Emscher, dahinter das schmale, in der Rinne verlaufende Flüsschen, auf der anderen der abgesteckte Kanal, am Horizont ein Umspannwerk oder eine stillgelegte Zeche, der Himmel gefesselt von Hochspannungsdraht, stellt sich eine ganz eigene Naturromantik ein, weht der Schauer eines historisch kühleren Abendhauches, als der von Bach und Wiesengrund. Hier weiß man den Menschen nicht nur aus dem Reich der Natur, sondern auch aus dem eigenen vertrieben.
Irgendwo auf der unerkennbaren Grenze zwischen Gelsenkirchen und Essen führt eine blaue Brücke über die Emscher. Das Deichwerk des Flusses schneidet schrägt in die Siedlungen, von seiner Krone blickt man hinab auf deren Dächer. Kaum scheint das dunkle Wasser zu fließen, da, wo der Schwarzbach von Süden einmündet, weicht es gar in trägen Wirbeln zurück. Was Bach, was Fluss: Rinne ergießt sich in Rinne, mit dem Lineal sind die Ufer gezogen, im Betonbett der Emscher lagert ein bügel-eisenförmiges Stahlgebilde mit aufmontiertem Elektromotor und abgehenden Schläuchen, das bei Bedarf Sauerstoff in das Gewässer bläst, den Geruch zu mildern. Ist doch die Emscher ab Dortmund bis zu ihrer Mündung in den Rhein immer noch offene Abwasserkloake und die Gegend hier beliebt bei Radfahrern und Joggern.
Demnächst auch bei Kunstliebhabern? Auf der anderen Seite der Brücke, auf dem Land zwischen Emscher und Rhein-Herne-Kanal, das hier vergleichsweise breit ist, vielleicht 200 Meter, und daher den schönen neuen Namen »Emscher-Insel« mit Recht trägt, lagert im Gras- und Strauchland unterhalb des geböschten Weges eine Brücke. Im Zickzack windet sie sich knapp zwei Meter über Grund zwischen den Bäumen, sie ist aus schwerem Holz gefertigt, grau gewordenen Bauholzbohlen, knapp 40 Meter lang, vielleicht sechs Meter breit. Die Brücke führt über nichts. Die Brücke führt zu nichts. Die Brücke wartet. Weil ihr Sinn und Zweck nur dies ist, das Warten, besitzt sie statt eines Geländers breite Begrenzungsbänke. Dort kann man sitzen. Wird sie von drei Querriegeln gekreuzt, drei Meter hohen Pavillons. In denen kann man übernachten.
Die niederländische Architekturkünstlergruppe »Observatorium« hat sich diese Sitzbrücke ausgedacht, ihr »Warten auf den Fluss« ist eines der faszinierendsten Projekte der »Emscherkunst«, die ab Ende Mai als Teil von Ruhr.2010 ein Stück des herben Wasserbegleitgrüns zwischen Emscher und Kanal mit einem Hauch von Kunst zum Blühen bringen will – einem Hauch, weil das Areal unvorstellbare 30 Kilometer lang ist. »Warten auf den Fluss« tut, wie es heißt: Denn eines Tages wird hier, unter der Brücke, die »neue Emscher« entlangführen: gereinigt und aus ihrer Rinne gehoben, um in einer Auenlandschaft zu mäandrieren. Aber Andre Dekker von »Observatorium« ist weit davon entfernt, auf eine kommende Idylle einzustimmen. Denn auch die »renaturierte« Emscher wird künstlich sein, über Terrain in Windungen vom Reißbrett verlaufend und von Pumpen getrieben. Da ist die Wartebrücke der Ort und bietet die Zeit, über diese Form der landschaftlichen Wiedergutmachung nachzudenken. »Wie viel Natürlichkeit kann die Emscher vertragen?«, fragt Dekker, dieser still-ironische, holländische Riese. Und sagt bedauernd: »Die renaturierte Emscher macht aus der Region einen Ort wie überall.« Doch die Brücke bietet mehr als den stillen Protest gegen einen Masterplan. Sie ist ein gültiger künstlerisch-architektonischer Ausdruck jenes Zustandes, der so seltsam zwischen Bewegung und Stillstand, Kraft und Lähmung, Gegenwart und Zukunft changiert: eben das Warten. »Es hat etwas Biblisches, nicht?«, sagt Dekker.
In »Warten auf den Fluss« kann man tatsächlich übernachten (zwei Mahlzeiten inklusive). In »Between the Waters« kann man wirklich aufs Klo gehen. Auch dieses Projekt besteht zu einem Teil aus einer Brücke, nur ist sie schmaler, verläuft höher und endet in einer Doppeltoilette, die über der abwasserführenden Emscher schwebt. Was die Besucher in den gelben, herzchenlosen Häuschen produzieren, wird zur Filtration in ein Sand-Kies- sowie ein Pflanzenklärbecken geleitet, auf natürliche Weise gereinigt und bewässert zuletzt – jetzt in der Nähe des sauberen Rhein-Herne-Kanals – ein großes Gemüsebeet. Entworfen haben »Zwischen den Wassern« Marjetica Potrč und »Ooze Architects« – »Emscherkunst«-Kurator Florian Matzner, der schon die »Skulptur.Projekte Münster« kuratierte, war es wichtig, für all die 20 »Interventionen« in die Landschaft des Emscherraumes Künstler zu gewinnen, denen Architekten oder Landschaftsplaner höchstens zur Seite standen. Wobei in diesem Fall ein unsichtbarer Öko-Pädagoge mit dabei war, dessen Geist etwas zu penetrant »zwischen den Wassern« schwebt.
Auch das Mosaik, das die Münchner Künstlerin Silke Wagner um den Faulturm eines stillgelegten Klärwerks in Herne gelegt hat, gibt eine Lehre – ohne belehrend zu sein. Wie eine gewaltige Bauchbinde umschlingt das Fries den knapp 20 Meter hohen, von Klärschlamm und Faulgas entleerten, eiförmigen Turm und zeigt in Weiß und Blau, in Schrift und Bild Szenen aus 120 Jahren Bergarbeiterprotest. Das Kumpeldenkmal steht produktionshistorisch – da in der Kläranlage – nicht ganz am richtigen; soziologisch – auf der Stadtgrenze zwischen dem proletarischen Recklinghausen-Süd und Herne – aber am genau richtigen Ort. Auf seine plakative Art könnte es seinen Nachbarn auf dem Weg zwischen Arge und Ein-Euro-Laden etwas von einer Kultur des Widerstandes vermitteln. Denn affirmativ, unironisch, ist dieses Werk und soll es sein, sagt Wagner: ein »Denkmal«. Ob »Glückauf. Bergarbeiterproteste im Ruhrgebiet« mehr sein wird als eine bebilderte Geschichtslektion, war bei Redaktionsschluss, vor einem eingerüsteten Mosaik, nicht zu erkennen. Genauso wenig, was im Innern des Turms demnächst an Filmen zu sehen sein wird. Denn dort, in dem faszinierenden Ei-Raum, wird das Künstler-Duo M+M eine Video-Rundumprojektion präsentieren, die – auch mit Spielfilmmitteln – den Strukturwandel im Ruhrgebiet erzählen will.
Die meisten »Emscherkunst«-Projekte werden erst kurz vor der Eröffnung Ende Mai vollendet sein werden – manche, wie Tobias Rehbergers spektakuläre Kanal-Fußgängerbrücke in der Nähe des Oberhausener Schlosses, erst weit danach. Dafür bleiben die meisten auch nach Beendigung der großen Open-Air-Ausstellung bestehen. Einigen wird das Amt für Wasserwirtschaft nachher an den Kragen wollen, diesem sicher nicht: der In-Aqua-Installation Bogomir Eckers im sogenannten Herner Meer. Der kleine Hafen mit dem großen Namen weitet an dieser Stelle den Rhein-Herne-Kanal (die Emscher ist irgendwohin verschwunden) und ist ein sommers beliebter Badeplatz. Die Mole entlang wird Musik von Bülent Kullukcu zu hören sein. Und vor der Spitze der Mole ragt nun ein 24 Meter hohes, strahlend gelbes, unregelmäßig zylindrisches Aluminium-Objekt aus dem Wasser, flankiert von einem kleineren, amorphen Türmchen sowie einer gemeinen Straßenlaterne. Was machen die drei im Herner Meer? Sie spiegeln mit ihrem Namen »reemrenreh« ihren Aufstellungsplatz. Sie machen aus der unter Autobahnböschungen und neben Industriearealen versteckten Situation einen Ort. Sie bewässern die urbane Wüste.
Wer Kurator Matzners frühere Wirkungsstätte, die »Skulptur.Projekte Münster«, einmal besucht hat, weiß, dass man dem Ausstellungsparcours ohne Fahrrad nicht gewachsen war. Genauso ist es hier. Und dies nicht aus Wiederholungszwang. Die »Emscherkunst«-Werke befinden sich (gegliedert in acht Ausstellungs-»Räume«) allesamt rechts und links von Emscher und Kanal. Die Städte aber wenden Fluss und Wasserstraße den Rücken zu und nötigen dem Autofahrer immerfort Umwege ab. Während der Emscher-Radweg, eben und breit, alle Punkte rasch miteinander verbindet. Räder gibt es an diversen Stationen zu leihen (man muss sie nicht einmal an derselben Stelle zurückgeben). Ausstellungsführer und Karten gibt es wohlfeil dazu. Überhaupt soll es bis zum Abschluss des Emscherumbaus, 2020, die »Emscherkunst« noch öfter geben. Auch das eine gute Nachricht.
Kühn ist dieses ganze Vorhaben – zu gewaltig, wenn auch nicht vordergründig schön, sind die Formationen der Industrienatur, als dass jedes der Architektur-Kunst-Werke gelingen könnte. Aber, schon allein die Orte zu besuchen, an denen sie aufgebaut sind, ist ein Erlebnis: Man käme sonst nicht dorthin. Zum Düker zum Beispiel, das meint die Unterquerung eines Gewässers durch ein anderes, hier die des Rhein-Herne-Kanals durch die Emscher auf der Grenze Recklinghausen-Castrop-Rauxel. Da ist die Renaturierung des Abwasserflüsschens schon in vollem Gange, das Wasserkreuz wird neu gebaut, vom Ausstellungsturm »Walkway and Tower« des Japaners Tadashi Kawamata aus soll man die Großbaustelle sehen können. Kann man aber nicht. Egal. Was man von Kawamatas angestrengt provisorischem Campanilino erblickt, ist auch so faszinierend: den Landschaft gewordenen Moment der Stille nach dem Lärm.
29. Mai bis 5. Sept. 2010. www.emscherkunst.de