TEXT: MARTIN KUHNA
Zum Beispiel Burcu, Celina, Funda, Ilias, Karim, Melissa P., Melissa S., Quissam, Sandra und Zehra. Die sieben Mädchen und drei Jungen sind Sechstklässler aus dem »problematischen« Essener Stadtteil Katernberg: hoher Ausländeranteil, arm, bildungsfern. Heute haben die Zehn ihre Schule an der Bischoffstraße verlassen, sind mit Klassenlehrerin Regina Dörrer-Leichnitz in einen Bus geklettert und wieder mal quer durch die Stadt südwestwärts zum Folkwang-Museum gefahren: Sie haben »Sprache durch Kunst«.
Die Begrüßung durch Projektmitarbeiterin Annika Burbank ist Routine – schließlich sind die Kinder nicht zum ersten Mal hier. Nachdem Taschen und Jacken abgelegt sind, trabt das Grüppchen in die Räume der ständigen Sammlung. Anhänger Sarrazinscher Kurzschlüsse müssten bei dem Anblick Gänsehaut bekommen: Nicht nur kommen diese Kinder aus dem Essener Norden und haben meist türkische, griechische und marokkanische Wurzeln, nein: Ihre Schule an der Bischoffstraße ist auch noch eine Hauptschule! Da kann man sich ja denken, was jetzt im Museum passiert, nicht wahr.
Denkste. Ganz ruhig folgen die »6a«-Kinder Annika Burbank, bis sie in einiger Entfernung von Henri Matisses »Stillleben mit Affodilen« halt machen und sich auf den Boden setzen. Aus einem der beiden mitgeführten Rollköfferchen holt Burbank knallrote Ringbuchordner und verteilt sie an die Kinder. Heute steht ein »Zeichendiktat« auf dem Programm. Fünf Kinder wenden sich den »Affodilen« zu, fünf hocken sich in die entgegengesetzte Richtung. Diese fünf sollen mit Bleistift zeichnen, was auf Matisses Bild zu sehen ist – ausschließlich nach Stichworten, die ihnen von der anderen Gruppe zugerufen werden.
»Ein Tisch«, sagt Sandra; die Fünf in ihrem Rücken beginnen zu zeichnen. »Eine Vase mit Blumen drin«, sagt Mel. »Ich glaub’, da ist ein Kuchen«, fügt Celina hinzu. »Eine Tasche«, ruft jemand. Da kommt die erste Rückfrage: »Aufm Tisch?« – »Ja.« Es folgen: »Ein Fenster.« – »Dahinter?« – »Ja.« – »Rundes oder eckiges?« – »Eckiges!« – »Eine Kanne neben der Vase links.« – »Ein Fenster.« – »Hatten wir schon!!« – »Ein – wie nennt man das Ding da vorne, das gelb-braune? Eine Sirupflasche?« Nach einer Weile schauen sie sich gemeinsam an, was die Zeichner, mit unterschiedlichem Geschick, zu Papier gebracht haben.
Sie überlegen mit Annika Burbank, warum fast alle Zeichnungen so winzig sind. Vielleicht, weil die ersten Durchsagen so knapp waren, dass man nicht wusste, was noch kommen und Platz brauchen würde. Das Fenster hat ein Mädchen so gezeichnet, wie es sich für sie gehört: mit Fensterkreuz und Gardinen. Aber das Helle auf dem Bild – ist das überhaupt ein Fenster? Der »Kuchen« ist ganz gewiss keiner. Die »Sirupflasche« ist eher ein Krug mit Kamelmotiven (»wie bei den Ägyptern«). Wie Matisse das Bild wohl gemalt hat? »Zeichendiktat«, mutmaßt einer der Jungen gewitzt. Aber Matisse, sagt Burbank, habe die Sachen wirklich vor Augen gehabt, exotische Gegenstände, die ihn faszinierten.
Nächste Station ist Emil Noldes »Stillleben mit Holzfigur«. Wieder hocken sich die Kinder auf den Boden und spielen mit getauschten Rollen das »Zeichendiktat« noch einmal. »Ein Zwerg«, ruft Melissa. »Ganz links eine lange Blume«, setzt Ilias fort. Die Erfahrung mit Matisse zeigt Früchte: Präzisierungen kommen jetzt früher. Manchmal sind die Ansagen schwer zu verstehen – die anderen sprechen zu laut. Nicht die anderen Kinder, sondern ältere Herrschaften, die sich vor Bildern in der Nähe ostentativ kennerisch unterhalten. Die 6a dagegen, die Hauptschüler, sind noch immer ruhig bei der Sache. Niemand albert, holt irgendein Spielzeug hervor oder eine Süßigkeit; man hört kein »boah ey«, kein »krass«, kein »menno«, kein »scheiß« – nicht mal von den drei Jungs.
Im nächsten Raum dürfen die Zehn in den anderen Rollkoffer greifen, Gegenstände blind betasten und hervorholen. Eine Tüte mit – »Nüssen?« – »Studentenfutter?« – »Vogelfutter?« Nein. Kichererbsen. Das nächste? »Kenn’ ich, is’ für die Augen.« Kajal. Weiter: »Das steht was drauf.« – »Ich kann Arabisch lesen!« Ist aber ein Frucht-Riegel aus dem Iran, die Sprache sicher Farsi. Dann: Ein kleiner Buddha. »China!« Eine Deutschlandfahne. Klarer Fall, »aber vielleicht in China gemacht.« – »Eine Gurke?« Nein, afrikanische Rassel. Und so fort.
Zuletzt ziehen sie in einen Werkraum mit papiergedeckten Tischen. Jeder malt seinen vorhin gefundenen Gegenstand in die Zeichnungen nach Matisse oder Nolde hinein. Jetzt ist auch Farbe erlaubt. Fast zwei Stunden sind vergangen, und ein bisschen wird nun herumgealbert nebenbei, vor allem die drei Jungs amüsieren sich. Aber nichts, das pädagogisches Eingreifen erforderte. Zum Schluss notieren sie, wie immer, was ihnen an diesem Tag wie gefallen hat. Dann nichts wie los, der Bus wartet schon. Einer fischt nun doch einen Schokoriegel hervor – »Nicht hier drin!« – und steckt ihn brav wieder weg.
Sind die immer so konzentriert? Im Prinzip ja, sagen Karin Mohr, beim Museum Folkwang Leiterin des Projekts »Sprache durch Kunst«, und Künstlerin Annika Burbank, die die Kinder als freie Mitarbeiterin im Museum betreut. Da gebe es auch kaum Unterschiede zwischen den Schulformen – beteiligt sind fünfte und sechste Klassen zweier Hauptschulen, einer Gesamtschule und eines Gymnasiums. Eher spielten die Tageszeit oder besondere Umstände eine Rolle. Aber das sei in den kleinen Gruppen leichter aufzufangen als in großen Klassen. Lehrer berichten, dass es manchmal nur mit Maulen in den Bus geht; aber im Museum genießen die Kinder dann die völlig andere Lernsituation in unbekannter Umgebung. Und es beteiligen sich dort oft gerade jene, die sich im Klassenraum von selbst kaum äußern.
Mit einem gewöhnlichen Sprachkurs hat das Projekt natürlich wenig zu tun. »Wir haben den Begriff Sprachverständnis extrem erweitert«, sagt Heike Kropff, im Museum für Bildung und Vermittlung zuständig. Es geht nicht nur um mündlichen und schriftlichen Ausdruck. Sondern um Kommunikation. Die Kinder lernen, ihre Umgebung visuell, akustisch und taktil wahrzunehmen und sich darüber zu äußern: sprachlich und schriftlich, aber auch gestisch und mimisch, zeichnend und modellierend. Sie erarbeiten sich nach und nach ein »Kunst-Wörterbuch«, aber sie haben auch Szenen zu Renoirs »Lise mit dem Sonnenschirm« pantomimisch gespielt. Sie haben einander zeichnend porträtiert. Sie haben eine Skulptur von Rodin betrachtet und dann selbst Figuren geformt.
Nur eins von allen beteiligten Kindern, so scheint es, war je zuvor in einem Museum. Hat es dann nicht, gerade von den immer so coolen Jungs, spöttische Bemerkungen gegeben über seltsame Formen, komische Farben, fehlenden Realismus in den Kunstwerken? Kaum, sagt Karin Mohr: »Die Kinder sind da noch völlig offen. Das geringschätzig Ablehnende – Was ist daran Kunst? Wieso hängt das hier? Warum ist das so teuer? – kommt erst später.«
Ein Experiment, so Mohr, sei die Betrachtung einer eindeutig männlichen Rodin-Skulptur gewesen. Annika Burbank hat beobachtet, dass Mädchen manchmal gar nicht hinzugucken wagten. Ein Junge, sagt Karin Mohr, habe an dem Tag wohl einige Probleme mit sich selbst gehabt und in seiner Mappe dann nur noch Penisse gezeichnet. Doch insgesamt habe sich die Spannung bald gelegt. »Fremd und vertraut« war übrigens Gegenstand des heutigen Tages mit Matisse und Nolde: exotische Gegenstände in deren Bildern, fremdländische Alltagsdinge in der Grabbelkiste und das Wiedererkennen, je nach eigenem kulturellen Hintergrund.
Bislang, so hört das Folkwang-Team von Lehrern, erzählen die Kinder begeistert vom Museum. Ein Junge sagte: »Ey cool, heute Nachmittag komm’ ich mit meinen Eltern wieder.« Karim von der Katernberger 6a schrieb, es habe ihm wieder gut gefallen, »weil es sehr Spaß macht.« Und: »Künstler sind cool.« Selbst wenn man den Kindern einige diplomatische Übertreibung unterstellt – da scheint das Projekt mit den mehrfachen Museumsbesuchen schon Wunder zu wirken.
Als Stoff zum Nachdenken notierte ein Kind am Ende eines Museumstages, »dass ich hier mehr lerne als in der Schule«. Dennoch bleibt den Schülern nach insgesamt elf Museumsbesuchen ein Nachspiel in der Klasse nicht erspart. Von Herbst an, wenn auch weitere Schulen zum Projekt stoßen, werden Pädagogen der Universität Essen-Duisburg das Thema dort vertiefen. Freilich bleibt der spielerische und themenbezogene Ansatz erhalten. Immerhin wird dann auch getestet werden, ob sich die sprachlichen Fähigkeiten der Schüler messbar verändert haben. Aber Ähnliches gilt für alle Beteiligten, wie Karin Mohr vom Museum sagt: Das zunächst bis Anfang 2013 geplante und von der Stiftung Mercator getragene Projekt werde stets evaluiert und weiterentwickelt.
»Es sollen noch viele Bilder kommen«, hat Quissam aus der Katernberger »6a« auf seinem Zettel notiert. Das kann man hübscher kaum formulieren.