TEXT: ANDREAS WILINK
Ein Tag wie jeder andere auch… Freitags in einer Kleinstadt in Massachusetts im Jahr 1987. Adele muss mühsam ihre Energie sammeln. Alles kostet sie Anstrengung und ist verstörend für sie – den Tag angehen, die Zündung des Wagens starten, den Einkaufskorb anschieben, ihren 13-jährigen Sohn Henry versorgen, mit dem sie allein lebt, seit ihr Mann sie verlassen und eine neue Familie gegründet hat. Henry beobachtet jede Bewegung seiner Mutter ganz genau. Er ist ihre Kontaktstelle zur Welt. Adele (eine in ihrer Zerbrechlichkeit überwältigend starke Kate Winslet) ist depressiv – wofür es Gründe gibt. Als die beiden im Supermarkt einkaufen, tritt ein Mann auf Henry zu und macht ihm klar, es sei besser, seinen Wünschen zu gehorchen, ihn seiner Mutter vorzustellen und ihn mit sich nachhause zu nehmen. So wie er den Arm um Henry legt und so wie er die Schusswunde am Bauch verbirgt, ist kein Zögern möglich. Frank (Josh Brolin) flüchtete aus der Krankenstation im Gefängnis, wo er seit 18 Jahren wegen Mordes einsitzt. Adeles psychische Passivität entkrampft die Krisensituation des Kidnappings. Und bald entschärft sich überhaupt die Lage. Frank macht sich nützlich, repariert Schäden am Haus und am Auto, übt Baseball mit Henry, putzt, kocht und backt einen knusprigen Pfirsich-Pie. Er übernimmt die Ersatzfunktion des Vaters, Gatten – und Geliebten.
In komplizierten Rückblenden, für die es einiges an Kombinationsgabe braucht, um die Figuren der Vergangenheit mit den jetzt Handelnden in Einklang zu bringen, entschlüsselt sich Adeles wie auch Franks Problematik. Zwei junge Familien, zwei Schicksale, Totgeburten und ein tragisch zu Tode kommendes Kind. Aber wir sind hier nicht auf Scorseses »Shutter Island«, sondern mit dem bisherigen Komödien-Regisseur Jason Reitman in einem heruntergekühlten Melodram, in dem Henry (Gattlin Griffith) zudem mit pubertären Nöten und Fantasien zu kämpfen hat, die ihm gewissermaßen ungewollt Verrat aufzwingen, als Adele, deren Hunger nach Berührung von Frank sensibel gestillt wird, und der von der Polizei Gesuchte beschließen, zusammen mit dem Jungen in aller Stille nach Kanada aufzubrechen. Nur alles hinter sich lassen! Als dann aber die Polizei das Haus umstellt, tritt Frank einen Opfergang an, um Adele und Henry vor Zweifel zu schützen. Der Epilog bringt Mutter und Sohn nach Jahren wieder mit dem Häftling zusammen. Der Gedanke gilt noch immer, für die Träume seiner Jugend Achtung zu tragen, wenn man Mann sein wird – und Frau ist.
»Labor Day«; Regie: Jason Reitman; Darsteller: Kate Winslet, Josh Brolin, Gattlin Griffith, Tobey Maguire; USA 2013; 110 Min.; Start: 8. Mai 2014.