TEXT: ANDREAS WILINK
Die sieben Männer und Frauen sind alle längst gestorben, Opfer des Zweiten Weltkrieges, der Partisanenkämpfe, der Zeitverwehungen. Als Geistererscheinungen und Gestalten aus einem Geschichtsbuch, das vielmehr ein Poesiealbum ist, werden sie wieder zu Fleisch und Blut. Auf der Bühne des Theaters an der Ruhr steigen sie durchs Fenster ein und umstehen das Bett ihres Nachkommen: die Mutter, ihre vier Geschwister sowie deren Elternpaar. Angelegt, verfasst und gelesen wird die Chronik vom Sohn, Neffen und Enkel: Der Nachfahr der slowenischen Svinecs, deren Name zwangsweise zu Bleier eingedeutscht wurde, ist kein Jüngling mehr, sondern ein bejahrter Mann. Beinahe dürfte man ihn Peter Handke nennen. Der Schriftsteller verwandelt sich für seinen historischen, biografisch grundierten Familienroman zur Kunstfigur. In Mülheim an der Ruhr, wo Roberto Ciulli »Immer noch Sturm« inszeniert, spielt Volker Roos den Bettlägerigen, dessen Traum der Vernunft die Ungeheuerlichkeit seiner Toten gebiert. »Es« lässt ihn nicht ruhen, den Beschwörer des Imperfekts und Intellektuellen mit Denkerstirn, der da hockt, sinnt und grübelt. Diesseits und jenseits des Fensters hinter seinem Bett auf aschigem Boden öffnet sich die Vergangenheit.
Das Erzähler-Ich – Mittler zwischen Raum und Zeit, zugleich Autor und Zuschauer – phantasiert sich in einen konkreten Erinnerungsraum. Das Jaunfeld im slowenischen Gebiet Kärntens: Ort eines Kulturkampfes zwischen dem bäuerlichen Volk, das seine Muttersprache, Gebräuche und Traditionen gegen die Deutschen verteidigen musste und seine reale wie geistige Heimat in der Auseinandersetzung verlor. Die Slowenen, ungewollt Teil des Großdeutschen Reichs, hatten sich als einzige innerhalb der Hitler-Diktatur widersetzt und durch ihren Widerstand auch Österreich nach 1945 zu Ehren verholfen. Es hat ihnen nichts genützt bei den Alliierten und in der späteren Republik Österreich und auch nicht bei den slawischen Brüdern hinterm Eisernen Vorhang. Die Okkupation geht weiter, der Sturm weht mal aus Ost und mal aus West.
Das Prosagedicht ist mit Herzblut geschrieben. Ein teils bukolisch backofenwarmer, häufiger bitter tragischer Reigen aus Episoden und Anekdoten, aus Klage und Fluch, Frontbriefen, Herrenmenschen-Jargon, aus Klartext, Wortschwall und einigen Kalendersprüchen.
Im Theater an der Ruhr kullern Äpfel auf die Bühne und später Totenschädel; eine Jause wird aufgetragen, aber keine Folklore gespielt. Die Kostüme sind stilisierte Trachten, die dezent genrehaften Szenen angenehm beiläufig, etwas steifleinen, aber stimmungsvoll ohne Sentimentalität. Fast archetypisch streng und konzentriert dank weniger zeichenhafter Symbole, bleibt die Inszenierung dichter und schlichter als die Vorlage Handkes, der sich dann doch zuweilen raunend berauscht am Ursprünglichen, um es gegen eine gottvergessene Gesellschaft in Stellung zu bringen. Am Ende, wenn man meint, es sei schon still, und Volker Roos als Erzähler ist wieder allein, erlaubt sich Ciulli einen seiner magischen Momente: einen wilden Indianer- und wirbelnden Totentanz mit sieben Leichentüchern. Das setzt einen elementaren Akzent und ist wirkungsvoller, als ein Hochamt mit Handke zu veranstalten.