Kommentar und Interviews: Ulrich Deuter
Mit beispielloser Kraftanstrengung und vor allem mit bis dato nie gesehener Einmütigkeit hat das Ruhrgebiet es geschafft, Kulturhauptstadt Europas für das Jahr 2010 zu werden – an Städten wie Köln, Lübeck, Regensburg vorbei. Nun liegt es gelähmt in der Ecke. Am 13. November wurde in Brüssel die offizielle Urkunde überreicht. In der frisch gegründeten »Ruhr 2010 GmbH«, der Hauptstadtjahr-Planungsorganisation, sollten jetzt eigentlich nichts als Freude und Arbeitseifer herrschen. Stattdessen herrscht Zank. Zank um den künstlerischen Leiter des Kulturhauptstadt-Programms, den es nach dem erklärten Willen der Revier-Kulturdezernenten gar nicht geben soll. Nach dem Willen der Landesregierung aber doch, und zwar möglichst in Person des amerikanischen Theaterregisseurs Peter Sellars. Der Initiativkreis Ruhrgebiet, der Regionalverband Ruhr (RVR) und die Stadt Essen stehen irgendwo dazwischen – alle vier sind die Gesellschafter der »Ruhr 2010 GmbH«: das Land sowie der Initiativkreis (ein Förderverein von Industriefirmen-Lenkern, u.a. Veranstalter des Klavierfestivals Ruhr) mit je 25 Prozent, Essen mit 17 und der RVR mit 33 Prozent. Viele Akteure im Ruhrgebiet, darunter auch die Dezernenten, möchten einen Generalmanager Scheytt und daneben programmatisch unabhängige Kuratoren für jedes der drei Themenfelder (»Stadt der Möglichkeiten«, »Stadt der Künste«, »Stadt der Kulturen«). Sie halten nichts von einem einfliegenden und wieder wegfliegenden Intendanten und weisen darauf hin, dass ein Kulturhauptstadt-Jahr kein Festival sei, sondern Katalysator einer nachhaltigen Entwicklung sein müsse, die im Ruhrgebiet weit über künstlerische Fragen hinausgehe. Das Land hingegen fürchtet, dass der Pott im provinziellen Klein-Klein stecken bleiben könnte, außerdem hat man in Düsseldorf nicht übersehen, dass 2010 Landtagswahlen stattfinden, bei der ein Ministerpräsident an der Seite einer international renommierten Persönlichkeit stärker glänzen würde als an der Seite von Oliver Scheytt. Der ist der Kulturdezernent Essens, Moderator der Bewerbung und bisher einziger Geschäftsführer der »Ruhr 2010«, aber eben auch Mitglied der SPD. Sellars 16 Millionen und damit ein Drittel des Gesamtetats für ein sechswöchiges Festival im Hauptstadtjahr zuzuschanzen, diesen (halbherzig dementierten) Wunsch von Kulturstaatssekretär Grosse-Brockhoff hat die »Ruhr 2010«-Gesellschafterversammlung abgelehnt. Wie zu erfahren war, waren nicht zuletzt die Sponsoren aus der Wirtschaft vehement dagegen.
Gespräche mit Sellars aber werden weiterhin geführt, beauftragt damit ist der Direktor des RVR, Heinz-Dieter Klink, nicht gerade ein besonderer Kenner der internationalen Festivalszene. Ziel der Verhandlung: mit Sellars zwei oder drei Projekte abzusprechen – sagen die »Ruhr 2010« sowie der Essener OB Reiniger. Sellars möglichst als künstlerischen Gesamtleiter des Kulturhauptstadtjahres zu gewinnen, sagen Grosse-Brockhoff und irgendwie auch der RVR. Ob Sellars, ein genialer Querkopf, an so einem Bürojob interessiert wäre? Wie man hört, nein. Und wenn er also für einen Leitungsposten wahrscheinlich gar nicht in Frage kommt, geht dann die Suche wieder von vorn los? Wie lange soll die dauern, wie lange will man sich zanken, vielleicht bis Herbst 2009? Und wenn Sellars doch käme – wie sollen die beiden zusammenarbeiten, der revierfremde Exot und der im Unterholz beheimatete Revierfuchs Scheytt? Um den ungenießbaren Brei, der da derzeit im Pott kocht, durchsichtiger zu machen, haben wir jeden der Köche gebeten zu zeigen, was er im Löffel hat. Und zwei nicht unmittelbar Beteiligte nach ihrer Einschätzung gefragt. – Peter Sellars übrigens lehnt zurzeit jeden Kommentar zur Frage seiner Mitarbeit ab.
Programmtreue!
Prof. Dr. Karl Ganser, ehem. Direktor der IBA Emscherpark:
Das war fast zu erwarten. Das Ruhrgebiet ist dabei, nach der erfolgreichen Bewerbung in die alten Rollen zurück zu fallen. Namenhandel statt Programmtreue.
Ein großer Name muss her! Der wird es schon richten und für Achtung in der Kultur-Clique sorgen. Seilschaften ziehen einander hoch und von Ort zu Ort. Kaum da, schon wieder fort und eigentlich nur neben all den anderen Verpflichtungen präsent.
Essen hat mit dem Ruhrgebiet den Titel gewonnen, weil die Region, die Aufgabe und das Programm aus dem Rahmen fielen. Köln, Münster und die anderen Bewerber waren demgegenüber konventioneller und zu nahe an den üblichen Kulturfestivals.
Lesen wir doch noch einmal die Schlagzeilen in der Bewerbungsschrift: »Metropole im Werden« (nicht: Wir sind Metropole). Es soll mit Hilfe der Kultur ein Prozess gestartet werden, der über 2010 hinausreicht. »Verwandte im Geiste« – Da soll ein europaweites Netzwerk entstehen, das nach dem Event selbst erst recht weiter trägt. »Die Neue Mitte« – Ein fliegendes Rathaus soll ein regionbildendes Zentrum markieren, das für die Menschen im Ruhrgebiet Ausdruck der Identität wird. »Die zweite Stadt« holt das Unterirdische und das Unterbewusste ans Licht. »Land for free« ist ein weltweit einmaliges Projekt für die Ausstattung einer »werdenden Metropole mit einem 50 km langen Central Park«.
Aber genug der Verweise auf die erfolgreiche Bewerbung. Wer solche Perspektiven begreift und vertritt und den noch recht allgemein gehaltenen Projekten Kraft und Format geben kann, der ist nicht unbedingt in der Welt der Bühnen zu Hause. Dessen Wanderschaften streiften durch Regionalökonomie, Kulturwirtschaft, Stadtplanung, Architektur und bildender Kunst. Der bewegt sich draußen in der urbanen Landschaft, gebeutelt durch die verbreitete Unkultur des Alltags. Und ist drinnen in den politischen Systemen, ohne sich mit ihnen gemein gemacht zu haben. Vor allem: Er ist da und vor Ort und nicht mit seinen Emotionen, Einsichten und Absichten auf Reisen. »Metropole im Werden« dauert länger als die vier Jahre bis 2010.
Gewiss soll auch diese Kulturhauptstadt Kulturveranstaltungen von Güte anstreben. Es gibt die Häuser und Institute in Bochum, Dortmund, Duisburg, Essen, Mülheim. Es gibt die RuhrTriennale mit einer bereits bestellten Intendantin und eigenem Budget. Dieser Bereich braucht keine »Generalintendanz« und schon gar keine zusätzliche Programm-Konkurrenz durch die Kulturhauptstadt. Das teilt nur die Aufmerksamkeit und schluckt zu viel der knappen Mittel.
Nein! Man suche eine Persönlichkeit, die eine »Metropole im Werden« auf der Grundlage der Bewerbung führen kann. Oder nehme den, der die Bewerbung mit seinen Mitdenkern wider alle Erwartung zum Erfolg gebracht hat. Jedenfalls nur keine Doppelspitze – die hat schon im Fußball versagt. Programmtreue statt Namenhandel! //
Für Sellars nur Projekte
Dr. Wolfgang Reiniger (CDU), Oberbürgermeister der Stadt Essen:
Entgegen Spekulationen, die in den letzten Tagen in der Presse zu lesen waren, geht es nicht darum, Peter Sellars ein sechswöchiges Festival durchführen zu lassen und ihm dazu finanzielle Mittel zur freien Verfügung bereit zu stellen, sondern um die Erarbeitung von Projekten, die sich in den Gesamtkontext der Leitthemen der Kulturhauptstadt 2010 einfügen und in den Gremien der Gesellschaft noch abzustimmen sind.
Für Sellars die Leitung
Heinz-Dieter Klink, Direktor des Regionalverbandes Ruhr:
In den wichtigen Fragen der Gründung und künftigen personellen Besetzung der Ruhr 2010 GmbH sind sich die Gesellschafter einig. Einstimmig haben wir festgelegt, dass Oliver Scheytt Mitglied der Geschäftsführung wird. Mit US-Regisseur Peter Sellars wird verhandelt. Er soll herausragende künstlerische Projekte für die Kulturhauptstadt Europas im Ruhrgebiet realisieren. Mit Peter Sellars soll auch darüber gesprochen werden, ob er eine Funktion in der Geschäftsführung übernehmen kann, denn nach wie vor ist die Funktion eines künstlerischen Leiters noch nicht besetzt. Eine große künstlerische Generalintendanz der Kulturhauptstadt wird es nicht geben. //
Streiten verbindet
Dr. Werner Müller, Vorstandsvorsitzender der RAG Aktiengesellschaft und Moderator des Initiativkreises Ruhrgebiet:
Die Frage der Gesamtleitung der Ruhr 2010 GmbH wird ambitioniert diskutiert. Daran sehen Sie, mit wie viel Herzblut alle Beteiligten bei der Sache sind. Der Titel Kulturhauptstadt 2010 ist eine großartige Chance. Über die genaue Besetzung der Gremien wird derzeit entschieden. Sie können sicher sein, am Ende steht ein homogenes Team, das gemeinsam und mit vollen Kräften an einem Strang in Richtung Kulturhauptstadt 2010 ziehen wird.
Angst ums Gesamtprogramm
Dr. Oliver Scheytt (SPD), Geschäftsführer der Ruhr 2010
Seltsam defensiv klingt der in Sachen Kulturhauptstadt sonst so frohgemute und (angesichts seiner Bewerbungserfolge berechtigt) selbstsichere Oliver Scheytt. Zum behaupteten Streit zwischen ihm und den Gesellschaftern der »Ruhr 2010« möchte er sich nicht äußern, was unter Politikern einem Eingeständnis gleichkommt. Er betont, dass es das Recht der Träger der Kulturhauptstadt-GmbH sei, die Leitungspersönlichkeiten zu bestimmen; falls es auf Peter Sellars als künstlerischen Geschäftsführer hinauslaufe, so freue er sich, mit ihm zusammenzuarbeiten. Denn das Ruhrgebiet sei gut beraten, Künstler einzubinden, auch internationale. Es müssten aber auch für die einzelnen Themenfelder des Kulturhauptstadt-Jahres gute Köpfe gefunden werden, und wichtig sei, dass am Ende diejenigen, die für das Programm verantwortlich seien, gut zusammenpassten. Das zu moderieren, sei seine Aufgabe, dass er dies könne, habe er vielfach bewiesen. Er werde den Gesellschaftern und dem Aufsichtsrat der »Ruhr 2010« nun Vorschläge zu Budget- und Personalfragen unterbreiten. Das alles klingt, wie angedeutet, anders als von Scheytt gewohnt, nämlich formelhaft aufgesagt. Es ist zu vermuten, dass dem medienbewussten Kulturpolitiker von den »Ruhr 2010«-Gesellschaftern tatsächlich ein Maulkorb umgehängt wurde, den er als deren Geschäftsführer zu akzeptieren hat. Dann aber äußert Scheytt doch seine Besorgnis: nämlich dass ein von außen kommender künstlerischer Gesamtleiter aus dem Ensemble des Kulturhauptstadt-Programms nach Gusto etwas herausbrechen, durch eigene Ideen ersetzen und damit den mühsam erreichten Konsens unter den Akteuren gefährden könnte.
In welchem Zeitrahmen die Gespräche mit Sellars geführt und abgeschlossen werden sollten, weiß Scheytt nicht, wie er sagt; aber seine Organisation habe in der Zwischenzeit ja genug zu tun – etwa Verhandlungen mit Künstlern, Organisationen und Sponsoren zu führen. Auf die Frage, welcher Künstler oder Sponsor von Rang sich auf etwas einlassen würde, von dem er nicht wisse, ob ein von außen kommender Intendant es am Ende gutheiße – auf diese Frage lacht Oliver Scheytt nur verlegen. //
Keine Angst vor Konkurrenz
Interview mit Marie Zimmermann, Intendantin der RuhrTriennale 2007 bis 2010
K.WEST: Peter Sellars als eine Art Intendant oder nur als Regisseur einiger theatralischer Projekte – wie ist Ihre Meinung dazu?
ZIMMERMANN: Ich bin die falsche Adresse für diese delikate Frage, ich bin schließlich nicht der Dorfrichter Azdak aus Brechts Kaukasischem Kreidekreis. Mich verdutzt allerdings die sich verschärfende Debatte. Die will ich nicht auch noch anheizen.
K.WEST: Eine Doppelspitze oder ein alleiniger Leiter – was wäre besser?
ZIMMERMANN: Für beide Modelle gibt es Vorbilder, in Graz oder Weimar als Kulturhauptstadt war jeweils einer verantwortlich. So einer könnte Sellars sein, oder auch jemand anders. Man muss sich nur entscheiden. Und manchmal ist das Unmögliche leichter zu bewerkstelligen als das Schwierige – eine Weisheit, die ich Daniel Barenboim verdanke. Es ist jedenfalls kaum hilfreich in der Sache, solche Fragen indiskret auf den Rialto zu tragen.
K.WEST: Welche Rolle sollte Sellars denn spielen?
ZIMMERMANN: Mich interessiert die Person erst in zweiter Linie. Aber wenn man sich die Schwerpunkte in der Bewerbungsschrift von Essen für das Ruhrgebiet in Brüssel anschaut, dann erscheint mir das Thema Migration am faszinierendsten, am originellsten auch. Wenn das als Thema zentral sein soll, macht es Sinn, mit Peter Sellars zu reden, der sowohl in Los Angeles als auch in Adelaide und jetzt in Wien mit seinem »New Crowned Hope« Migration erfolgreich zu seinem Festival-Thema gemacht hat. Ich habe Erfahrungen mit Peter Sellars, bin aber offen für jeden.
K.WEST: Selbst wenn Peter Sellars nur für zwei oder drei Projekte gewonnen würde, würde dies eine Konkurrenz für die RuhrTriennale bedeuten. Fürchten Sie die nicht?
ZIMMERMANN: Das ganze Jahr 2010 ist »Konkurrent« der RuhrTriennale 2010! Wir werden dann möglicherweise ein von einem Veranstaltungsinfarkt erschöpftes Publikum haben, das Programm der RuhrTriennale muss dann präziser sein denn je! Im Gegensatz zu anderen fürchte ich aber Konkurrenz nicht. Zwei souveräne Partner sollten doch in der Lage sein, sich und ihren Zuschauerinnen und Zuschauern 2010 eine unvergessliche Zeit zu machen!
K.WEST: Hat man Ihnen eine Summe genannt, die Sie von Ihrem Etat im Jahr 2010 für die Kulturhauptstadt bereitzustellen haben?
ZIMMERMANN: Nein. In meinem Vertrag habe ich mich zu einem kooperativen Miteinander mit der Kulturhauptstadt bereit erklärt, mehr nicht. Es hat allerdings anfangs den Versuch gegeben, das gesamte Budget der RuhrTriennale 2010 in die Rechnung der Kulturhauptstadt einzubeziehen, das habe ich mir verbeten. Selbstverständlich wird es eine Kollaboration zwischen der RuhrTriennale und der Kulturhauptstadt geben – unabhängig davon, für welches Leitungsmodell sich die Gesellschafter entscheiden. Aber bitte als eigenständige Institutionen – mit soviel Abstand wie nötig und soviel Nähe wie möglich, da genügt ein Kreidestrich, über den hinweg man viel miteinander tun kann. Aber die Trennlinie sollte niemand verletzen. //
Ein Promi nur als Botschafter
Interview mit Dr. Hans-Georg Küppers (SPD), Kulturdezernent der Stadt Bochum
K.WEST: Sind Sie zufrieden mit dem Beschluss der »Ruhr 2010«-Gesellschafter?
KÜPPERS: Ich bin dagegen, der Kulturhauptstadt einen von außen kommenden Intendanten voranzustellen. Das würde auch so aussehen, als könnte das Ruhrgebiet es nicht alleine. Wir haben aber nicht umsonst bei der Bewerbung viele Jurys überzeugt und große Städte aus dem Feld geschlagen, weil wir gemeinsam auf unsere eigene Kraft gesetzt haben. Die Kulturdezernenten des Ruhrgebiets sind der Meinung, die Projekte der Kulturhauptstadt sollen auch im Ruhrgebiet entwickelt werden. Um die einzelnen Themenfelder zu bearbeiten sollten wir dann ruhig gute Leute einsetzen. Die haben wir aber selbst! Wie ich höre, ist Peter Sellars gerade für das Thema Migration im Gespräch – aber dieses Thema ist mit dem Melez-Festival, mit TWINS und anderen Aktivitäten im Rahmen der Kulturhauptstadt bereits hervorragend besetzt!
K.WEST: Aber ein prominenter Name kann nicht schaden!
KÜPPERS: Ein Prominenter könnte als Botschafter für Kulturhauptstadt Ruhrgebiet tätig sein. Aber nicht dafür, die Inhalte zu bestimmen.
K.WEST: Wie soll es jetzt weitergehen?
KÜPPERS: Es muss einen Kompromiss geben, denn am Ende darf ja keiner als der Verlierer dastehen. Leider hat das Land sich mit seinem Vorschlag in eine Ecke manövriert, aus der es jetzt schwer wieder herauskommt. Sicher, das Land gibt mit 12 Millionen viel Geld für die Kulturhauptstadt und hat daher das Recht, mitzubestimmen. Man darf aber nicht den Ruhrgebiet-Städten die Pistole auf die Brust setzen, wie dies derzeit geschieht. Wir müssen jetzt schnellstens aus dieser Zwickmühle herauskommen, sonst geben wir uns in Europa der Lächerlichkeit preis. //
Selbstgenügsamkeit ist kleinkariert
Interview mit Hans-Heinrich Grosse-Brockhoff (CDU), Staatssekretär für Kultur des Landes NRW
K.WEST: In Sachen künstlerische Leitung der Kulturhauptstadt herrscht Dissens. Das Land favorisiert »ergebnisoffene Gespräche« mit Peter Sellars, die auch in einer künstlerischen Gesamtleitung münden könnten. Ist das richtig?
GROSSE-BROCKHOFF: Nein, es herrscht kein Dissens zwischen den Gesellschaftervertretern. Alle vier sind der Meinung, dass es neben einem für die Organisation und für den Kontakt mit der Region zuständigen Geschäftsführer Oliver Scheytt auch eine künstlerische Leitung geben soll, und dass wir dieserhalb gemeinsame Gespräche mit Peter Sellars aufnehmen. Wobei wir auch klären wollen, ob und inwieweit Sellars über Projekte, die er gern selbst machen möchte, hinaus auch künstlerische Leitungsfunktionen übernehmen kann und will. Darüber herrscht volle Einigkeit. Wie die künstlerische Leitung aussieht, das ist also im Moment noch offen und hängt zuallererst von Gesprächen mit Peter Sellars ab.
K.WEST: Der Direktor des Regionalverbandes Ruhr, Heinz-Dieter Klink, betont hingegen, Konsens in der »Ruhr 2010« sei: »Eine große künstlerische Generalintendanz der Kulturhauptstadt wird es nicht geben.«
GROSSE-BROCKHOFF: Eine Generalintendanz im Sinne einer Alleinherrschaft kommt in der Tat nicht in Betracht, es wird in jedem Falle daneben Herrn Dr. Scheytt geben. Ich würde nicht einmal den Begriff Intendanz verwenden, sondern künstlerische Leitung. Und über diese ist mit Sellars noch zu reden – da besteht meines Erachtens auch mit Herrn Klink Einigkeit. Wir hätten gern, dass Sellars möglichst viel an künstlerischer Leitung übernimmt, nicht zuletzt um auch sein imposantes internationales Netzwerk zur Verfügung zu stellen.
K.WEST: Nun existiert aber auch der Plan, für die einzelnen Themenfelder der Kulturhauptstadt Programmdirektoren zu finden…
GROSSE-BROCKHOFF: Eine nachrangig zu entscheidende Frage…
K.WEST: Aber doch ein Widerspruch!
GROSSE-BROCKHOFF: Nein, kein Widerspruch. Wenn man weiß, wie die künstlerische Leitung aussieht, dann kann man zusammen mit dieser bestimmen, welche Kuratoren man weiterhin braucht. Aber erst einmal muss man die Frage beantworten, wie die künstlerische Leitung aussieht. Es mag dem einen oder anderen nicht passen, dass es eine künstlerische Leitung geben soll, aber dies ist der Wille aller vier Gesellschaftervertreter. Und diesbezüglich passt in der Tat kein Blatt Papier zwischen uns.
K.WEST: Dennoch, es bleibt ein Unterschied, ob man Kuratoren sucht, die in programmatischen Fragen niemandem untergeordnet sind, oder solcher, die einer künstlerischen Gesamtleitung unterstehen.
GROSSE-BROCKHOFF: Ja. Und im Moment versuchen wir auch mit Peter Sellars darüber zu reden, dass mit ihm zusammengearbeitet wird und dann auch darüber gesprochen wird, wer denn für einzelne Fachbereiche und Disziplinen als Programmdirektor in Betracht kommen könnte.
K.WEST: Vertreter der Bewerbung um die Kulturhauptstadt wie z.B. der Bochumer Kulturdezernent Hans-Georg-Küppers vertreten die Auffassung, das Ruhrgebiet könne das Hauptstadtjahr sehr gut programmatisch allein bewältigen.
GROSSE-BROCKHOFF: Ich akzeptiere, dass das Ruhrgebiet erstens eine unglaublich gute Bewerbung hingelegt hat. Dass es zweitens auch sehr viel Hervorragendes wird auf die Beine stellen können. Aber ich werde wirklich nachdenklich, wenn jemand sich selbst genügt und glaubt, nicht auch einen Input, einen Anstoß von außen zu brauchen. Beides muss stattfinden: sowohl die Selbstdarstellung der Kultur im Ruhrgebiet, die ja vielleicht jetzt erstmals die finanzielle Möglichkeit erhält, ihre wahren Potenzen zu zeigen – als auch der Anstoß von außen. Es geht nicht an, da gleich zu rufen – wörtliches Zitat –: »Einen Sellars brauchen wir hier nicht.« Das ist für mich kleinkariert.
K.WEST: Es gibt den inhaltlichen Einwand, dass ein Kulturhauptstadt-Jahr kein Festival ist, sondern nachhaltig wirken muss.
GROSSE-BROCKHOFF: Ja genau! Ich denke, gerade was Nachhaltigkeit angeht, können wir von Peter Sellars eine Menge lernen!