TEXT: ANDREJ KLAHN
Getrunken wurde auch schon vor zehn Jahren auf dem Hermannplatz, doch selten alkoholfrei. Kaffee heißt jetzt die neue Droge, und ihre heißeste Umschlagszeit ist samstags, wenn im Düsseldorfer Stadtteil Flingern-Nord Wochenmarkt ist. Dann fahren Frank und Betty ihren roten Anhänger unter das grüne Platanendach, klappen die mobile Theke aus, heizen die Espressomaschine an und versammeln die Latte-Macchiato-Gemeinde um ihren Wagen, umgeben von Ständen mit Blumen, Obst und Gemüse. Die gab es von Anfang an auf dem 2003 gegründeten Markt, hinzugekommen sind dann irgendwann auch Spezialitäten aus Griechenland und hausgemachte Pasta. Und all die wahnsinnig urban aus-sehenden, anspruchsvoll einkaufenden Menschen mit den großen Kommunikationsbrillen.
»Espresso rigoroso« und »Caffè authentico (!)«. So heißen die beiden Kaffee-Sorten, die bei »Frank & Frei« offeriert werden. Frank und Betty verkaufen nicht einfach nur
Kaffee, sie schenken »echten Genuss« aus. Obwohl das eingedeutschte Italienisch anderes vermuten ließe, wird der Cappuccino hier nicht mit Sahne, sondern mit Milch serviert, mit »ausschließlich biologischer«. Das trifft sich gut. Denn wer sich am Biostand gegenüber noch mal schnell das Gemüsefach auffüllen möchte, muss seit ein paar Monaten mit erheblichen Wartezeiten rechnen – so wie auch an den Schaukeln auf dem angrenzenden Spielplatz.
»Unter den Linden« nennt sich das Projekt, das die Wohnungsbaugesellschaft Ralf Schmitz nur ein paar Schritte vom Hermannplatz entfernt auf der Lindenstraße realisiert. Auch wenn sich »Wohnungsbaugesellschaft« danach anhört – für Ralf Schmitz’ Geschäftsmodell spielen günstige Mietwohnungen keine große Rolle. »Teuer, teurer, Ralf Schmitz« steigerte die Westdeutsche Zeitung vor vier Jahren. An Interessenten fehle es nicht, die Objekte suchen, die laut Firmen-Homepage »Ausdruck luxuriöser Lebensart und repräsentativer Wohnkultur« sind und zeigen, dass »sich hier Bewohner mit höchsten Ansprüchen zusammen gefunden haben«. Doch es mangelt an Grundstücken, beklagt der geschäftsführende Sohn Richard Alexander Schmitz. »Wir könnten doppelt so viele Objekte verkaufen, wenn wir sie anbieten könnten.«
In Flingern ist das Unternehmen fündig geworden, in einem Viertel, das Schmitz seinen Kunden in einem Werbefilm als Notting Hill von Düsseldorf verkauft. Rund zehn Millionen Euro kostet der Luxusbau. Wenn er fertig ist, wird es 18 Wohnungen mehr geben in Flingern, und für jeden Eigentümer zwei Parkplätze. Die benachbarte Montessori-Hauptschule hätte das Grundstück auch gerne genutzt. Doch es wurde meistbietend vergeben. Urbanes und doch geborgenes Leben in der Großstadt, bunte Marktstände, historische, liebevoll gestaltete Häuserfassaden, Cafés, Bistros, kreative Shops und Galerien, das sei Notting Hill, erklärt eine freundlich zugewandte Männerstimme in dem »Unter den Linden«-Clip, während Ausschnitte aus der nach dem Stadtteil benannten Komödie mit Hugh Grant und Julia Roberts eingespielt werden. Und so gehe es ja auch in Flingern-Nord zu. »Es gilt unter eingeweihten Lebenskünstlern als Geheimtipp für ein nobles Leben ohne Starallüren.« Das muss zu einer Zeit gewesen sein, als sich die Frau des für Schalke 04 kickenden Superstars Raúl in Flingern noch nicht die Haare machen ließ.
Für all die, die nicht »Unter den Linden«, sondern einfach nur gegenüber auf der Lindenstraße wohnen, ließ Ralf Schmitz im Sommer 2009 in regelmäßigen Abständen Pralinen verteilen. Ein kleines Präsent während der
Sprengungszeit. Damit »Unter den Linden« irgendwann mal so aussehen kann, »als hätte es schon immer hier
seinen Platz gehabt«, musste zunächst einmal der Bunker weichen, der auf dem Grundstück stand. Gegen halb sieben habe der Baulärm angefangen, erinnert sich Sarah Jüntgen. »Das ging manchmal bis abends halb zehn, drei Monate lang.« Durch das Fenster ihrer Wohnung wird die Intensiv-Krankenschwester und Mutter dreier junger Kinder bald direkt auf den »durchdachten Wechsel von Naturstein, kunstvollen Metallbrüstungen, hochwertigen Holzfenstern« und »eindrucksvolle Portale aus edlem Naturstein« schauen können. Glücklicher macht sie das nicht.
Als Jüntgen vor sieben Jahren von Köln nach Düsseldorf zog, war der Stadtteil um den Hermannplatz gerade am Anfang einer Entwicklung, die Flingern-Nord zu einem Viertel machen sollte, das heute vor allem eines ist: schick. Ein Kiez mit gut erhaltener Altbausubstanz, in dem sich bevorzugt junge Leute und Singles niederlassen, die es großstädtisch, aber nicht schmutzig mögen. Doch das war nicht immer so. Flingern, vor allem der südliche Teil, der vom Norden nicht nur durch eine Bahntrasse getrennt ist, galt lange als Schmuddelecke der Stadt; in den Statistiken vorne zu finden allein in den Bereichen Arbeitslosigkeit, Migrationsanteil und soziale Transferleistung. Sarah Jüntgen erinnert sich noch gut an den Zustand des Spielplatzes, bevor Auszubildende des AWO Beufsbildungszentrums zusammen mit einer Kölner Künstlerin darangingen, die sich wie eine Schlange windende, den neu konzipierten Sandspielbereich einfassende Mauer mit farbigen Mosaiksteinen zu bekleben: »Das war ein Drogenumschlagplatz«.
»Der Stadtteil gilt als sozial hoch belastet« heißt es dann auch im 1999 erstellten Handlungskonzept für den Stadtraum Flingern/Oberbilk. Grundlage dafür, ihn in das Stadterneuerungsprogramm »Politik für Stadtteile mit besonderem Erneuerungsbedarf – Soziale Stadt NRW« aufzunehmen. Geld dafür kam von Land und Bund. Zwischen 2000 und 2008 flossen knapp 15 Millionen: um Stadtteilzentren zu stärken, Grün- und Freiflächen zu schaffen, das Wohnumfeld zu verbessern oder soziale Prozesse anzuregen. Konkret heißt das: bunte Fassaden, neue Spielplätze, breitere Bürgersteige, Stadtteilmarketing und vieles mehr.
Nur einen Steinwurf vom Hermannplatz entfernt offerieren heute Läden Dinge, bei denen auf den ersten Blick nicht ganz klar ist, wozu sie dienen und ob man sie braucht. Handyhüllen in Kassetten-Optik zum Beispiel. Oder: hölzerne Kofferradios mit kinderhandfreundlichen Stellknöpfen und einer Lautsprecherverschalung, die sich vermutlich auch als Topfuntersetzer nutzen ließe. Kerzen in Pilzform, Kimmidoll-Schlüsselanhänger, zu Teewärmern umfunktionierte schwarze Wollmützen und selbstverständlich auch putzige Accessoires für Menschen mit Kindern, kleine T-Shirts etwa, auf denen »Dramaqueen« steht oder Plastik-Sandspielzeug in Froschkönigdesign. Wenn dieses Angebot Rückschlüsse auf das Kaufverhalten der Anwohner zulässt, scheint die »soziale Belastung« in Nord-Flingern mittlerweile gut auszuhalten zu sein. Sogar Buchsbäumchen wachsen auf den Balkonen, und in Nordmanns Eisfabrik wird seit letztem Jahr Eis »so wie früher« serviert – Sorten wie »Schwarzer Sesam« oder »Mokka Kardamon«.
Lange schon kaufen nicht mehr nur Flingeraner in Flingern ein. »Die Ackerstraße ist offenbar bei Amerikanern besonders beliebt«, weiß Philipp Laferi von Düsseldorf Marketing und Tourismus zu berichten. Sarah Jüntgen hat in den letzten zwei Jahren festgestellt, wie der Stadtteil zum Ziel auch des binnenstädtischen Tourismus geworden ist. Neuerdings treffe man Menschen auf dem Markt, die so aussehen, als kämen sie gerade aus Sylt, sagt sie. Nur jünger.
Von den »Schattenseiten des Booms« berichtete vor drei Jahren dann die Westdeutsche Zeitung: Es fehle an Parkmöglichkeiten. Da waren sich alteingesessene Anwohner, neu Hinzugezogene und Ladenbetreiber noch einig. Doch die Prämien, die solvente Paare für die Vermittlung einer geräumigen Altbauwohnung im Szene-Viertel auf Zetteln an Bäumen und Laternen ausloben, ließen schon vor drei Jahren vermuten, dass es in Flingern-Nord nicht nur an Parkplätzen fehlt. »4203 Euro pro Quadratmeter. Wer soll in Flingern noch wohnen«, fragten Graffiti nicht zufällig auf den Gehsteigen »Unter den Linden«. Und Plakate tauchten auf, auf denen »Freiräume für Bewegung« zusammen mit dem Bündnis »Recht auf Stadt« die Nachbarn dazu aufrief, am Abend des 15. Februar 2011 mit Sperrmüllmöbeln ein Freilicht-Wohnzimmer vor der Notting Hill-Baustelle zu errichten. Zufällig an dem Tag, an dem der Ring Deutscher Makler in den Medienhafen gebeten hatte, damit RDM-Chef Jörg Schnorrenberger den anwesenden Journalisten im 17. Stockwerk des »Sign« mitteilen konnte, dass die Immobilienpreise in Düsseldorf durch die Decke gehen: Die Stadt sei »fast ausverkauft, die Mieten sind in den letzten Jahren explodiert. Immobilien sind so sexy wie lange nicht mehr.«
Lässt man den letzten Satz weg, findet Schnorrenberger vermutlich auch die Zustimmung von Carsten Johannisbauer. Johannisbauer, Künstlername: Jonny Bauer, steht in Düsseldorf-Bilk dem Kunstverein »Metzgerei Schnitzel« vor, unterrichtet Grafikdesign an der Fachhochschule der Stadt, hat sein Büro seit 15 Jahren in Flingern – und bei ihm kommen die Mails an, wenn man wissen möchte, wer hinter »Freiräume für Bewegung« steckt, einem Netzwerk für Kulturschaffende in Düsseldorf. »Es hört sich vielleicht blöd an«, sagt Johannisbauer, »aber ich finde das Nachbarschaftsverhältnis, ein Miteinander, sozialen Austausch in einem Viertel wichtig.« Deshalb sucht er den Schulterschluss zwischen freier Kunstszene und alteingesessenen Anwohnern, die sich die stark steigenden Mieten kaum mehr leisten können. Johannisbauer organisiert Punkkonzerte in verrauchten Eckkneipen und lädt die Schützenkapellen in den Kunstverein ein. Dabei ist ihm durchaus bewusst, dass die gezielte Ansiedelung von Off-Kultur durch Zwischennutzungen in leer stehenden Läden ein beliebtes Instrument der Stadtteil-erneuerung ist. Nicht zuletzt Kreativität ist das Schmiermittel der Gentrifizierung. Denn sie hilft, das Image eines Stadtteils investitionsfreundlich aufzupolieren, damit dann die Bionade-Bohème einziehen kann, die sich selbst einiges wert ist. »Die Stadt sieht sich nur als Unternehmen«, so hat Johannisbauer ein Grundübel der Erneuerungspolitik ausgemacht, »sie kämpft in einem Städteranking und vernachlässigt ihre sozial-integrative Aufgaben.«
»Der Kiez freut sich auf Sie!« lautet einer jener Slogans, mit dem Immobilienentwickler ihre exklusiven Objekte gerne bewerben. In Flingern hat man dieser Freude mit rosa Farbbeuteln Ausdruck verliehen, die auf dem Ralf-Schmitz-Plakat vor »Unter den Linden« zerplatzt sind. Kleiner Willkommensgruß aus dem bunten Künstlerviertel Flingern.
Am 16. Juli wird auf dem Hermannplatz ab 14 Uhr ein Nachbarschaftsfest gefeiert, mit Trödel, Live-Musik, Essen und Trinken. Wer möchte, hat dort die Gelegenheit, sich am Aufbau einer kleinen Stadt zu beteiligen. Holz, Hammer, Säge und Farbe müssen mitgebracht werden.