TEXT: ANDREAS WILINK
Wer hätte geahnt, dass der Abgrund zum Gipfel führen würde: dass die dreiteilige Jelinek-Uraufführung mit dem Archiv-»Sturz« von Köln, wie es sinkt und kracht, unisono Publikum und Kritiker zur Ovationen und Hymnen animiert? Der dreieinhalbstündige Abend wurde zum künstlerischen Triumph für das Schauspiel Köln. Und mobilisiert die gesamte Stadt – auf fast schon beängstigend zustimmende Weise. Bis Ende Dezember ist jede Vorstellung ausverkauft.
Für das »Theater des Jahres« scheint es derzeit keine Erfolgsgrenze zu geben. Wobei dies zuvörderst der Chefin zu danken ist. Man muss schon lange überlegen, um Vergleichsgrößen zu Karin Beier zu finden, wo ein inszenierender Intendant zugleich der beste Regisseur seines Hauses ist. Claus Peymann in Stuttgart und Bochum, Dieter Dorn an den Münchner Kammerspielen und der Frank Castorf der frühen Jahre am Rosa-Luxemburg-Platz in Berlin fallen einem da ein.
Der Glanz des Gelingens liegt über ihrer Theaterarbeit. Aber er ist nicht eigenschaftslos. Wagemut, ästhetische Sicherheit, ein Instinkt für Timing und kreative Konzentration, geschärft an den Kanten und reduziert in den Mitteln, zeichnen sie aus, egal was sie anfasst, wobei die 1965 in Köln geborene Beier nicht nach Wiederholungsmuster vorgeht, während manch ein Kollege es mit seinen Methoden und Manierismen gern zur perfekten Selbstimitation bringt. Die Karin Beier ihrer frühen Shakespeare-Tummelplätze in ihrem Überschwang, früher noch als 1993 mit »Romeo und Julia« in Düsseldorf begonnen, hat sich verändert und gebändigt. Auf die psychologisch verdichteten Szenen einer Ehe von Medea und Iason im »Goldenen Vlies« folgte das düstere Endspiel mit Shakespeares »Lear«, folgte die soziale Farce nach Ettore Scola in Stummfilmmanier und Frontalansicht – und folgte die Jelinek-Exegese, mit der sich Beier neben den »Sportstück«-Regisseur Einar Schleef stellen darf.
Ein Prophet, der die Prognose wagt, Beier werde im Mai 2011 beim Berliner Theaterreffen mit »Das Werk / Im Bus / Ein Sturz« vertreten sein, geht wenig Risiko ein. Die Technik im Haus überlegt jedenfalls schon, welche Bühne in Berlin sich unter Wasser setzen ließe für den »Sturz«-Bach. Die neuerliche Theatertreffen-Nominierung würde im Foyer des Schauspielhauses am Offenbachplatz Platz finden neben schon fünf anderen Einladungen: »Die Erscheinungen der Martha Rubin« (2008), »Wunschkonzert« (2009) sowie Die Kontrakte des Kaufmanns«, »Kasimir und Karoline« und »Die Schmutzigen, die Hässlichen und die Gemeinen« (2010).
Beier, die ihren Vertrag mit Köln bis 2014 nebst weiterer Option verlängert hat, verfügt über ein nicht gering am Erfolgsprojekt beteiligtes, erstklassiges Ensemble, das in Nordrhein-Westfalen seinesgleichen sucht. Die Saison bis zum Sommer lässt noch einiges erwarten.
Der Lette Alvis Hermanis, der in der Halle Kalk bzw. der Schlosserei bereits »Die Kölner Affäre« und »Transit« nach Bashevis Singer inszeniert hat, begleitet im Februar einige Tage im Leben des »Oblomow«. Gontscharows berühmter russischer Romanheld wurde zum Synonym für Passivität, Müßiggang und Willensschwäche und zum literarischen Modell des russischen »überflüssigen Menschen«, der sich im Sinnlosen erschöpft. Einer, der um Nichts zugrunde geht. Wir kennen diese liebenswürdigen Leute aus Tschechows traurigen Komödien, darunter dem »Kirschgarten«. Karin Henkel, 2006 mit ihrem Stuttgarter Tschechow-»Platonow« beim Berliner Theatertreffen dabei, inszeniert das Drama der Abschiede vom alten Leben als nächstes in Köln: Premiere am 14. Januar.
Zu Beiers exzellenten Darstellern, die so gar nichts von Stars an sich haben, gehört neben Jan-Peter Kampwirth, Carlo Ljubek, Michael Wittenborn oder Angelika Richter auch Julia Wieninger, die sich fast unmerklich nach vorn gespielt hat, etwa bei Beier selbst im »Lear« oder in der Jelinek-Trilogie, bei Karin Henkel und vor allem bei Katie Mitchell. Dass die Engländerin Mitchell sich mit Virginia Woolfs experimentellem Reflexions-Roman »Die Wellen« (ebenfalls im Februar) beschäftigt, nimmt nicht wunder, nachdem sie in Köln in Franz Xaver Kroetz’ »Wunschkonzert« das Monodrama einer Frau in Isolation zur multiplen sozialen Installation aufgerüstet hat. Einsamkeit und stille Verzweiflung erfassen auch Woolfs sechs Personen. Sie verschlingt der fortwährende Gleichlauf. Die Gezeiten des Lebens verrinnen.
Existenzielle Krisen. Da fehlen nur noch zwei Autorennamen: Kafka und Beckett. Das dänisch-österreichische Autoren- und Performance-Kollektiv Signa wird im Frühjahr in einem offen gelassenen Kölner Amtsgebäude, der früheren Kfz-Behörde an der Herkulesstraße, »Die Hundsprozesse« abhalten und das Schicksal eines gewissen Herrn K abwandeln. Behördengänge, Akteneinsicht, Protokolle, Vernehmungen, Anklagen, Verhandlungen: Das System dient sich selbst. Wer sich dabei an die im »Sturz« geflutete Bürokratie und die »administrative Ekstase« (Dostojewski) erinnert, kann nicht ganz fehl gehen.
Thomas Dannemann bringt Ende Mai die Heilige Schrift des absurden Theaters, »Warten auf Godot«, auf die große Kölner Bühne. Da bei Becketts Klassiker naturgemäß alle Fragen offen bleiben, kann an dieser Stelle noch nicht beantwortet werden, wen Wladimir und Estragon, Lucky und Pozzo spielen. Harald Schmidt wird nicht wieder dabei sein – obwohl das ja nahe läge.
Wenn mit so viel dunklem Klang und schwarzem Humor über die Unsicherheit der menschlichen Verhältnisse gehandelt wird, darf wohl mal eine Räuberpistole für einen Knall sorgen. Das bürgerliche Gaunerspiel, Bert Brechts und Kurt Weills »Dreigroschenoper«, die Nicolas Stemann im März auszählt, bietet, wenn ihre Moralität auch schon an Neuwert eingebüßt hat, doch feine Unterhaltung – Musik, Gesang und Balladen vom angenehmen Leben. Es wird schon nicht gleich den Hals des Mackie Messer kosten. Und Karin Beier bewahrt ohnehin kühlen Kopf.