Wo Deutsche im Zeitalter der Romantik schaudernd die harte Hand des Schicksals an die Pforte klopfen hörten, erkannten Franzosen in Beethovens fünfter Symphonie c-Moll Zitate von Revolutionsmusik im wehenden Weltgeist. Sie fassten sie als »symphonische Marseillaise« auf und sehnten das triumphale C-Dur-Finale herbei. Treffender als an diesem Beispiel lässt sich kaum verdeutlichen, was es bedeutet, wenn das Bonner Beethovenfest in diesem Jahr das Banner der Freiheit ausrollt. Das Motto »Liberté« nehmen das Festival und seine Intendantin Ilona Schmiel nicht bloß als willkommenen Anlass, oft und gern gespielte Stücke wie die »Eroica« und den »Fidelio« neu aufzulegen, ist Beethovens Nähe zu den Idealen der Französischen Revolution und ihrer in hehre paroles gefassten Trias doch gerade in diesen Werken evident. Vielmehr geht es darum, sich Beethovens Schaffen vom Westen her zu nähern und das eigene Beethoven-Bild im Kontext heute meist vergessener Meister zu prüfen, deren Musik den Takt der Ereignisse von 1789 aufgenommen hatte.
Zu ihnen gehört Étienne-Nicolas Méhul (1763 bis 1817), dessen Opéras comiques im Paris des Robespierre und des Empire zu den erfolgreichsten und meistgespielten Werken gehörten. Der Musikwissenschaftler und Publizist Michael Stegemann, der sich seit zwei Jahrzehnten intensiv mit der Musik dieser Epoche beschäftigt, stieß in der Pariser Nationalbibliothek auf die vergessene Méhul-Oper »L’Irato« (Der Hitzkopf), die als angebliches Werk eines gewissen Fiorelli im Februar 1801 in der dortigen Opéra Comique uraufgeführt wurde und ein Sensationserfolg war. »So etwas würde ein Franzose nie schreiben können!«, schwärmte kein Geringerer als Napoléon Bonaparte, dessen Vorliebe für die italienische Oper Méhul nur zu genau kannte, war er doch über Jahre Gast des Feldherrn und Kaisers. Über dieses Urteil dürfte Méhul sich schalkhaft gefreut haben, schien der große Stratege doch mit Blick auf nationale Eigenarten eher wenig versiert – zumindest auf musikalischem Gebiet.
Die erste Wiederaufführung des Werks seit 200 Jahren stellt die gewiss größte Rarität innerhalb des Beethovenfestes dar, das am 8. September mit einem Open-Air-Konzert auf dem Museumsplatz beginnt und am 2. Oktober mit einem Konzert des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks unter Ingo Metzmacher endet. Die »Hitzkopf«-Handlung stuft Stegemann als eher belanglos ein. Die junge Isabelle liebt Lysandre, während ein alter Griesgram seine Nichte lieber mit seinem Freunde verheiraten will. Die Musik aber nimmt nach Meinung des Entdeckers vieles von dem vorweg, was man für einen typischen Beethoven halten könnte: »Er hat den erhabenen Stil bei den Franzosen gelernt. Es ist frappierend, wie viel in diesem Stück bereits vorgedacht und vorgegeben ist.« Die Gesangspartien der Oper spiegeln Méhuls Versuch, die italienische Tradition aufzugreifen. Statt der ausführlich gesprochenen Dialoge, die selbst die Textlängen von Mozarts »Zauberflöte« noch übertreffen, hat Stegemann die Handlung zusammengefasst, so dass nun der Schauspieler Udo Samel – alias Bonaparte – das Geschehen auf der Bühne vorstellt und kommentiert. Die Premiere in der Bonner Bundeskunsthalle mit dem Ensemble »l’arte del mondo« unter Werner Ehrhard am 18. September wird wegen der wahrscheinlichen Neuwahlen von 18 Uhr auf 12 Uhr vorgezogen.
Französische Schwerpunkte prägen zudem die Orchesterkonzerte. Hier treffen die große Symphonien des Meisters, sein Tripelkonzert C-Dur und das fürwahr imperiale Klavierkonzert Nr. 5 F-Dur auf Werke von François-Joseph Gossec, Étienne-Nicolas Méhul, Albert Roussel, César Franck, Claude Debussy, Maurice Ravel und Camille Saint-Saens. Die »Symphonie fantastique« von Hector Berlioz und Tschaikowskys »Ouverture solenelle« fehlen in dem Kontext ebenso wenig wie Kompositionen der Moderne. Hier zeigen die sechste Symphonie von Valentin Sylvestrov und die achte Symphonie von Karl Amadeus Hartmann, wie stark Beethovens Schaffen bis ins 20. Jahrhundert hinein fortwirkte. Mit dem Orchestre Philharmonique de Radio France und dem Orchestre National de France sind überdies zwei der bedeutendsten Klangkörper aus dem Nachbarland zu Gast. Etwas vom Thema fort führt das Gastspiel des New York Philharmonic Orchstra unter Lorin Maazel, das die Symphonie »Aus der Neuen Welt« sowie »Don Juan« und die »Rosenkavalier«-Suite von Richard Strauss mitbringt.
Im zweiten Jahr der Intendanz von Ilona Schmiel beweist das monothematische Festival eine Vielfalt, die nicht konzeptionslos wirkt, sondern von Programmlinien klar zusammengehalten wird. Der Klaviersonaten-Zyklus im Beethoven-Haus vereint mit Andreas Staier, Bernd Glemser, Garrick Ohlsson und Louis Lortie vier exzellente Pianisten. Das Hagen Quartett interpretiert an drei Abenden in Folge Beethovens späte Streichquartette. »Fidelio« hat als Kooperation mit dem Theater Bonn am 25. September, inszeniert von Günther Krämer, Premiere. Experimentelles Musiktheater bietet die Reihe »Bonn chance«. Im Forum der Bundeskunsthalle kommt am 28. September der Einakter »Die Irre oder nächtlicher Fischfang« heraus, eine Auftragsproduktion des Komponisten Jan Müller-Wieland und der Librettistin Micaela von Marcard. Jazzkonzerte, die Reihe »Musik und Literatur« und ein Chanson-Abend mit Dominique Horwitz betonen die andere, weniger klassisch strenge Seite des Festivals.
Kritisch vermerkt das Programmheft, dass von den Idealen der Französischen Revolution bald nur noch Utopie übrig sei. Nun könnte man mit Ernst Bloch salopp sagen, mehr ist nicht drin. Dass aber das »Seid umschlungen, Millionen«, das zur Eröffnung erklingen wird, mehr als eine materielle Note erhält, sollte uns schon noch geläufig sein.
www.beethovenfest.de. Infos: 0228/20 10 345; Tickets: 0180-500 18 12.