Robert Schneider ist »Manager, Personalchef, Streetworker, Sozialarbeiter, Therapeut, Supervisor, Trainer, Coach, Entertainer«, seine Aufzählung ist spontan und unvollständig. Er arbeitet 60, 70 Stunden in der Woche, und er liebt seinen Beruf, »weil man große Gestaltungsmöglichkeiten hat«, ja, weil es »einer der freiesten Berufe ist, die es gibt«. Leider können wir Näheres über seinen Arbeitsplatz, irgendwo in Nordrhein-Westfalen, nicht sagen, leider können wir Robert Schneider nicht so schildern, dass er vor dem Leser Gestalt annehmen würde, und der Name ist, natürlich, auch erfunden. Denn Robert Schneider ist katholischer Priester, hat eine Stelle als Pfarrer, ist homosexuell, und er ist als Priester nicht keusch geblieben. Deshalb könnte es mit seinem Beruf ein schnelles Ende haben, wenn Vorgesetzte sein Inkognito durchschauten.
Dass die katholische Kirche Homosexuelle in ihren Reihen nicht eben schätzt, entnahm die Welt neulich einer Instruktion Papst Benedikts XVI., das homosexuellen Priesterkandidaten nur dann die Weihe gestattet, wenn sie jegliche homosexuelle Praxis und damit eine »tiefsitzende« Neigung in einer dreijährigen Karenzzeit hinter sich gelassen haben. Das Interesse der Öffentlichkeit an diesem Erlass nimmt Robert Schneider mit einer gewissen Skepsis zur Kenntnis. Denn zum einen betreffe das Dekret ja nur Männer, die erst noch Priester werden wollen, und zum zweiten sei es derart dehnbar formuliert und sei die verlangte dreijährige Reinigungsphase mitsamt ihrem Ergebnis so offensichtlich nicht überprüfbar, dass sich in der Praxis vielleicht gar nichts ändern werde und jeder Amtsträger mit homosexuellen Priesteranwärtern so rigide oder so liberal verfahren könne wie zuvor. Die Beachtung der Instruktion in den Medien hält er für übertrieben. Als Motiv für ihre Veröffentlichung vermutet er eine »Überreaktion« auf die rufschädigenden Skandale um den unentschuldbaren Kindermissbrauch durch Geistliche.
Im Grunde, sagt Schneider, sei das Thema Homosexualität und Priestertum für ihn persönlich gar keins. Im Gegensatz zu manchem Kollegen wolle er die Dinge nicht durch die rosa Brille eines Homosexuellen betrachten, und von »schwuler Theologie« halte er sowenig wie von feministischer. Er besteht darauf: »Meine Homosexualität hat mit meiner Arbeit nichts zu tun«, folglich gehe sie außerhalb seines Freundeskreises niemanden etwas an. Einmal habe er an einem geheimen Treffen homosexueller Priester teilgenommen, aus Neugier. Und: »Von Homosexualität hat da keiner gesprochen.« Es sei um ganz normale Fragen priesterlicher Arbeit gegangen, um Seelsorgerisches, um Glaubensfragen, Verwaltungsprobleme. Na also! Das hat ihn natürlich in seiner Haltung bestätigt. Es ist nie wieder hingegangen – und der Kreis hat sich inzwischen auch aufgelöst.
Obwohl er sein Privatleben nicht öffentlich macht und obwohl er um strikte Anonymität bittet, kann man nicht behaupten, dass Robert Schneider sich versteckte. Details verbieten sich, aber: Er sieht deutlich jünger aus als seine 45 Jahre; Haartracht, Bart und Brille sind so auffällig- modisch, dass der Pfarrer damit keineswegs als graue Maus durchs Gemeindeleben huschen kann. Zwar keine Spur »Hach!«-Getue, aber wer sich im Schwulen-Schnüffeln gefällt, fände wohl Anhaltspunkte für Verdächtigungen und Gerüchte. Spielt er also womöglich mit dem Enttarntwerden? »Nein, ich trete nur so auf, wie ich bin.«
Wer ahnt denn in der Gemeinde von seiner Homosexualität? »Ich weiß es nicht, definitiv nicht«, sagt Schneider. Er horche auch nicht nach irgendwelchen Gerüchten. Kopf im Sand? »Ich bin ein religiöser Dienstleister«, gibt Schneider provozierend nüchtern zurück, »und als Person völlig uninteressant«. Und das, so glaube er, sehe die Gemeinde genauso. »Der Knackpunkt ist: Wenn einer sich nur um sich selbst dreht, ist er schnell seinen Job los.« So aber würden Gerüchte über sein Privatleben nur dann als Hebel benutzt werden, wenn man ihn aus anderen Gründen loswerden wollte – etwa, weil er seinen Beruf nicht richtig ausfülle. Deshalb will er die Vorstellung nicht akzeptieren, dass er beruflich gleichsam auf einem Pulverfass sitze, das jederzeit explodieren kann.
Bleibt die unvermeidliche Frage, warum er denn partout Teil einer Gemeinschaft sein wolle, die seine Art zu leben nicht akzeptiert. Erstens: sein Glaube. Ohne den Glauben, sagt Schneider, »wäre dieser Beruf nicht möglich. Wenn der Glaube wanken sollte, dann müsste ich den Beruf sofort an den Nagel hängen.« Davon aber sei nicht die Rede bei ihm. Und auch der wohlfeile Hinweis, dass er als protestantischer Pfarrer auf weniger Probleme stoßen würde, nutzt ihm nichts. Er ist ganz dezidiert katholisch. Nicht »wegen der Deko« und der schönen Gewänder, sagt er ironisch. Sondern, zum Beispiel, wegen zweier »Kernpunkte in der ökumenischen Diskussion«: wegen der Abendmahlsfrage und des priesterlichen Amtsverständnisses. Ins Priesteramt habe er sich auch nicht aus Angst vor seiner Homosexualität geflüchtet, noch habe er den Beruf gar in der Hoffnung auf ein homoerotisches irdisches Paradies in der katholischen Männergemeinschaft gewählt. Er habe den Schritt zur Priesterweihe ganz bewusst getan mit dem ernsten Vorsatz, das Keuschheitsgebot einzuhalten. In dem Punkt habe er sich getäuscht – nicht anders als mancher heterosexuelle Kollege.
Dass er beim Keuschheitsgebot allemal mit kirchlichen Vorschriften kollidiert, sei wohl »ein Dilemma«, räumt Schneider an, »aber ein äußeres Dilemma, kein inneres«. In solchen Momenten hat man zuweilen das Gefühl, Robert Schneider weiche auf elegante und konziliante Weise aus. Aber er präzisiert: Eine Ablehnung des Homosexuellen, meint er, sei aus der Bibel nicht abzulesen. Im Katechismus sei kein Raum für die Diskriminierung Homosexueller oder anderer Menschen. Auch das Gebot der Keuschheit und der Ehelosigkeit für Priester sieht er nicht als ursprüngliches und essentielles Element des katholischen Christentums. Insofern sehe er sich wohl im Kon flikt mit »äußeren Gesetzen« der Kirche, die aber nicht zur »inneren Instanz« taugten: »Es beeinflusst nicht mein Gewissen, ich mache in dem Sinne nichts Falsches.« Das Priesterbild der Ausbildung, zu dem Ehelosigkeit und Keuschheit gehören, sei irreal, nie zu erreichen und habe mit dem Leben eines Priesters wenig zu tun.
Der Hinweis darauf, dass doch offenbar ein Großteil seiner Vorgesetzten in sexualibus anderer Meinung sei und dass dies in der extrem hierarchischen katholischen Kirche nicht nebensächlich sein könne, scheint in Schneider fast so etwas wie die Lust am Widerspruch, am Paradoxon zu entfachen. Er schätzt es, dass der Papst – »wir haben uns fast angewöhnt, immer von Ratzinger zu sprechen oder gar von Ratzi, aber bitte: es ist Benedikt XVI.« – die traditionellen Werte, das Nicht-Beliebige im katholischen Christentum herausstelle: »Das finde ich gut. Insofern bin ich ein Wertkonservativer.« Und Schneider weist ausdrücklich darauf hin, dass einer der wichtigen Vorzüge des Katholizismus sein traditionelles Amtsverständnis sei, welches die Priester in direkter Nachfolge der Apostel sehe und den Amtsträgern eine vergleichsweise große Machtfülle verleihe und damit eben Freiheit im Beruf. Nun – ist es dann nicht auch folgerichtig, wenn hohe Amtsträger der Kirche deren Gesetzen Respekt verschaffen und Männer wie ihn in die Schranken, aus dem Amt weisen? »Das Gute an der katholischen Kirche ist: Es hat keiner so viel Macht, dass er alles gestalten kann«, behauptet Schneider. Zum Thema Homosexualität und Zölibat gebe es durchaus unterschiedliche Äußerungen verschiedener Kardinäle. Es gebe durchaus Raum für Barmherzigkeit: »Die Kirche ist für den Menschen da, nicht der Mensch für die Kirche.« Und ein Vorgesetzter, ein Chef müsse auch weise sein. In solcher Weisheit sieht er wohl Grund für die Hoffnung, dass er nicht in Acht und Bann getan würde, wenn »es« je herauskommt. Die Freiheit innerhalb der Kirche ist demnach eine Freiheit, die er sich nimmt, die aber irgendwie auch darauf beruht, dass der Konflikt nicht ausgetragen, nicht benannt wird. Ist er mit diesem Verhalten nicht Teil gerade jener katholischen Tendenz, über unrealistische Ansprüche, über den Bruch unerfüllbarer oder unpopulärer Vorschriften den Mantel des Schweigens zu breiten und den Schein für Realität zu nehmen? Ist es nicht – scheinheilig?
»Die alte Frau Kirche ist ein hässliches Weib«, sagt Schneider, »sie hat aber einen so guten Kern, dass man bei ihr bleibt«. Unter den hässlichen Dingen sei die Einstellung Kirchenoberer zu homosexuellen Priestern noch das geringste Problem im Vergleich etwa zum Zölibat, zum Verbot der Empfängnisverhütung mit fatalen Folgen in der Dritten Welt oder dem Ausschluss der Frauen vom Priestertum. Diese Erscheinungen seien bedauerlich, sie änderten aber nichts an der Liebe zum wahren, zum guten Kern der Kirche. Was seine persönliche Rolle angehe, so wolle er »der Kirche nicht schaden, sondern helfen, ihr das Gesicht zu geben, das sie aus meiner Sicht braucht«. Dazu sei es aber nicht notwendig, ja kontraproduktiv, wenn er seine als durchaus nebensächlich erachtete sexuelle Orientierung publik machen würde. Scheinheilig sei das nicht, sagt Robert Schneider, scheinheilig wäre nur, wenn er etwa zum Schein von der Kanzel gegen Schwule wettern würde: »Wein trinken und Wasser predigen – das geht nicht.«
Beim Versuch, sich die offizielle Haltung der Kirche vom Bonner Moraltheologen Gerhard Höver erläutern zu lassen, findet das eigentümlich Schwebende in Robert Schneiders Argumentation durchaus eine Entsprechung. Man hat den Eindruck, dass es da Parallelen gibt, die sich vielleicht doch nicht erst im Unendlichen schneiden. Mit Schneider völlig d’accord ist der Professor darin, dass vom Katechismus her die Diskriminierung wegen bloßer homosexueller Veranlagung ethisch nicht zu rechtfertigen sei. Insofern sei die päpstliche Instruktion zur dreijährigen Karenzzeit für Priesteranwärter durchaus als Klarstellung in diesem Sinne zu lesen. Wenn ein so veranlagter Priester, fest im katholischen Glauben, seinen Beruf vorbildlich ausfülle und seine – gleichsam theoretische – sexuelle Orientierung auch nicht publik mache, dann sieht Höver nicht Anlass noch Möglichkeiten einzuschreiten, und es klingt, als sei das weder ihm noch der von ihm interpretierten Kirche unangenehm.
Anders sei es indes beim Verletzen des Keuschheitsgebots. Das sei bei homosexuellen Priestern aus kirchlicher Sicht weder ohne weiteres mit dem heterosexuellen Bruch des Zölibats gleichzusetzen, noch sei es eine tolerable Nebensächlichkeit. Es gehe da schon sehr grundsätzlich um die völlige »Freiheit, als Priester für Andere da zu sein«, um elementare Überzeugungen. Sich aber disziplinarische Konsequenzen auszumalen für den Fall, dass ein unkeusch lebender homosexueller Priester von wem auch immer »geoutet« wird, dem widersetzt sich Professor Höver ebenso sanft und nachdrücklich wie Robert Schneider. Er sieht aus kirchlicher Perspektive Bedarf für Gespräche, wie er mehrfach sagt, mit dem Ziel, dem betroffenen Priester zu helfen, wobei er offen lässt, worin diese Hilfe am Ende bestehen würde, denn das hänge sehr weitgehend von den konkreten Umständen ab. Die Vorstellung, dass ein Priester wie Robert Schneider in seinem Beruf aufgeht, in dieser Rolle uneingeschränkt für andere da ist, sich in seiner Situation eingerichtet hat und durchaus keinen Bedarf an Hilfe empfindet, entwaffnet den Professor weitgehend.
»Solange das im Verborgenen bleibt, kann man nichts tun«, sagt Höver schlicht. Und wiederum bleibt in der Schwebe, ob das denn aus kirchlicher Seite wirklich schlimm sei. Die gedankliche Hilfskonstruktion, dass die rundum positive, religiös und seelsorgerlich einwandfreie Arbeit eines gedachten homosexuellen und unkeusch lebenden Priesters eben durch diesen verheimlichten Umstand entwertet oder beschmutzt wäre, bringt immerhin soviel an den Tag: Für eine solche Kontaminationsthese, meint Gerhard Höver, gebe es keine Grundlage. Mag also sein, dass Robert Schneider am Ende recht behält und das Thema »homosexuelle Priester in der katholischen Kirche« irgendwann keins mehr ist. Es steht allerdings zu vermuten, dass das doch erst ein gutes Stück Wegs in Richtung Unendlichkeit sein wird.