TEXT: STEFANIE STADEL
Aus den Regalen unterm Tisch quellen Stangen, Stutzen, verknotete Kabel, vollgestopfte Kisten. Oben drauf und drumherum sieht es auch nicht besser aus: Schraubzwingen, alte Batterien, verbeulte Ölkannen … Fast könnte einem schwindelig werden beim Blick ins Autowerkstattchaos, das Boris Becker auf seinem Großfoto ausbreitet. Doch vielleicht ist es gar nicht so schlimm, wie es zunächst aussieht. Zumindest dem Mechaniker, der hier arbeitet, macht die Unordnung offenbar kaum zu schaffen – Der wisse genau, wo alles zu finden sei, versichert Becker. Und so trifft denn auch der Titel seiner Soloschau jetzt bei Heinz Holtmann nicht ganz ins Schwarze.
»Total Desaster« heißt es da angesichts der neuesten Produktionen des Kölner Fotografen. Wird man in diesen »desaströsen« Szenerien doch immer eine gewisse Struktur, ein System entdecken. Auf und über der chaotischen Werkbank ebenso wie in der hoffnungslos überfüllten Kleinküche. Oder auch in jenem verwunschenen Aussteigeridyll, das der Kölner Lebenskünstler Ketan sich aus Euro-Paletten, Balken, Teerpappe und allerlei Sperrmüll auf einem leerstehenden Grundstück mitten in der Stadt gezimmert hat.
Anarchie überall? Becker hält dagegen. Fördert den letzten Rest an Ordnung zu Tage mit jenem strengen Blick, jener geradlinigen Komposition, für die der Becher-Schüler bekannt ist. Von 1984 bis 1990 besuchte er die legendäre Fotografenklasse an der Düsseldorfer Akademie, begann noch zu Studienzeiten, reihenweise Hochbunker und einfache Einfamilien-häuser abzulichten. Später untersuchte er Ackerfurchen und Brückenkonstruktionen. Überblickte sonnig-gelbe Felder, sanfte grüne Hügel in der Toskana, einen tiefblauen See umgeben von eisigem Weiß. Auch überraschte Becker mit Fotos skurriler Objekte, die von Drogenschmugglern ersonnen und vom Zoll beschlagnahmt worden waren: Das Blatt Löschpapier aus Kokain, Luke Skywalker als Drogendose, Viagra, getarnt als Fisherman’s Friends.
Ganz egal, was er sich vornimmt, gleichgültig auch, ob er das große Ganze oder das Detail sucht, Becker hält fest an seiner konzeptuellen Art des Sehens, des Erfassens. Und bleibt damit – bei aller Eigenständigkeit – seinen Lehrern doch recht treu. Viel treuer als einige der ehemaligen
Klassenkameraden. Während andere digital aufdrehen, ins Universum vordringen (Thomas Ruff) oder mit den Augen des Satelliten auf die Weltmeere schauen (Andreas Gursky), hält es Becker auf dem Boden; in Werkstatt und Wohnküche. Und wenn er einmal abhebt, dann nur ein klein wenig, um von oben auf die Flachdächer von Aleppo zu schauen und Ordnung in das Meer von Satellitenschüsseln zu bringen. Becker war 2010 in Syrien – Monate vor dem totalen Desaster.
Galerie Heinz Holtman, bis 14. Oktober 2012. Tel.: 0221/2578607. www.galerie-holtmann.de