// Das M:AI, das Museum für Architektur und Ingenieurkunst NRW, wird sich in einer Ausstellungsreihe ab Sommer dieses Jahres einem verhassten Bewohner unserer Städte widmen: der Architektur der 60er und 70er Jahre. Brutal, einfallslos, menschenfeindlich, so lauten die gängigen Attribute für die vielen Bauwerke, mit denen die Städte an Rhein und Ruhr mehr geschlagen denn gesegnet sind. Doch ist es wirklich nur der betonierte Ungeist, der uns da umsteht? Was – so schnell jedenfalls – nicht wegzukriegen ist, sollte man verstehen lernen. Um zu begreifen, warum wurde, was ist. Und um festzustellen, dass sich unter dem Schrecklichen auch manches Bemerkenswerte, ja Schöne verbirgt. Einige Trouvaillen aus jener Zeit wird K.WEST in den kommenden Heften vorstellen. Eine Einführung ins Thema bietet auf den folgenden Seiten die ehemalige Direktorin des Deutschen Architekturmuseums Frankfurt.
Von Ingeborg Flagge
Einer der Gründe, warum die Architektur der 1960er Jahre so unbeliebt ist, ist ihre angebliche Uniformität. Doch daran stimmt einiges nicht. Denn die Bauten dieser Zeit folgen keinem einheitlichen gestalterischen Kanon, sie sind vielmehr sehr unterschiedlich. Hinzu kommt, dass viele der in den 60ern begonnenen Planungen erst in den 70er Jahren fertig werden und ihre Konzeption zum gebauten Zerrbild wird, je länger die Realisierung dauert.
Architektur spiegelt bekanntlich immer die Entwicklung einer Gesellschaft wider. So auch die Bauten der 60er Jahre. Politischer war die Bundesrepublik zu keinem Zeitpunkt und nie war die Zeit gegensätzlicher. Hier das Ende des Wiederaufbaus, dort der Beginn einer internationalen Bedeutung. Hier »keine Experimente« (Konrad Adenauer), dort Wachstumsoptimismus und der uneingeschränkte Glaube an das technisch Machbare. 1961 findet der erste bemannte Raumflug statt, aber auch der Bau der Mauer durch die DDR. Hier noch verbreitet die unpolitischen Werte der 50er Jahre wie Fleiß und Sparsamkeit, dort der Protest einer außerparlamentarischen Opposition 1965 gegen den Eintritt der USA in den Vietnamkrieg. Hier die Idee von einer Chancengleichheit für alle im Rahmen deutscher Bildungsreform, dort 1968 die Zerstörung der Hoffnung eines Sozialismus mit menschlichem Antlitz durch den Einmarsch der Sowjets in Prag. Im Städtebau beginnt der Ruf nach »Urbanität durch Verdichtung«. Die wieder aufgebauten Städte platzen aus den Nähten. 1960 hat sich der PKW-Bestand gegenüber 1950 vervierfacht. Zerstörerische Straßendurchbrüche mit dem Ziel einer autogerechten Stadt finden sich bis heute in allen Städten. Dabei geht der Mensch als Planungsziel weitgehend verloren. Der Wohnungsbau erreicht Rekordhöhen, setzt aber in den Städten einen katastrophalen Abriss von alten Quartieren in Gang. Da durch Spekulation innerstädtische Grundstückspreise nicht mehr zu finanzieren sind, beginnt man den Bau von Großsiedlungen am Stadtrand. Sie sind fast immer Schlafstädte und bieten keinen Spielraum für menschliches Leben, wie Chorweiler bei Köln bis heute deutlich macht.
Alexander Mitscherlich geißelt diese Entwicklung 1965 in seinem Buch »Die Unwirtlichkeit unserer Städte«. Er verbindet damit eine Anstiftung zum Unfrieden, den eine studentische Protestgeneration gern aufnimmt. Ein anderes Buch, »Die gemordete Stadt« von Gina Angreß, Elisabeth Niggemeyer und Wolf Jobst Siedler, protestiert 1964 gegen einen zunehmenden »Bauwirtschaftsfunktionalismus«, der die Individualität in der Architektur vernichtet und ihre Gleichförmigkeit zum neuen Ideal erklärt.
Als der Architekt Josef Lehmbrock 1971 auf der Weltausstellung in Montreal seinen Protest gegen anonyme Großbauten, Stadtzerstörung und die Entmündigung des Bürgers in seiner Ausstellung »Profitopolis« formuliert, haben studentische Demonstrationen noch nichts verändert. Selbst das Europäische Denkmalschutzjahr 1975, das für ein radikales Umdenken im Städtebau und für die Entdeckung des Wertes alter Bausubstanz steht, beendet nicht die Proteste gegen eine Architektur, die Aspekte der Wirtschaftlichkeit höher bewertet als kleinteilige Gestaltung und Atmosphäre. Architektur braucht eine lange Zeit zur Umkehr, wenn sie sich einmal in die falsche Richtung entwickelt hat. Der Großbau des Klinikums Aachen (1971–88) ist dafür vielleicht das beste Beispiel. In diesem Traum der 60er von der großen Maschine sollten in einem einzigen Bauwerk alle für eine Universitätsklinik notwendigen Einrichtungen konzentriert werden, um so Wirtschaftlichkeit und Effizienz zu erreichen. Aber in einer Maschine, wo solche Ziele höher bewertet werden als menschliche Bedürfnisse, fühlt sich der Mensch selten wohl.
Uniklinikum Aachen. Architekten Weber + Brand 1971–88.Foto M:AI NRW
Nachholbedarf in allen Bereichen der Gesellschaft und eine sich daraus ergebende Massenproduktion ist die Erklärung für eine Entwicklung im Bauen, die auf Einheitlichkeit statt Individualität setzt, Systemplanung anstelle einmaliger Grundrisse feiert, elementiertes statt handwerkliches Bauen bevorzugt. Am Ende dieser Entwicklung steht die Rigorosität der Universität Bochum mit ihrer Baumassenkonzentration, ihrer anonymen Monotonie der Einzelbauten und dem sturen Raster der Gesamtanlage, die nur aus der Vogelperspektive nachvollziehbar ist. Bochum bleibt ein gigantischer Einzelfall, der zwar die in sie gesetzten Hoffnungen wirtschaftsstruktureller Innovation und einer Aufwertung der Region erfüllt. Aber der bauliche Preis ist zu hoch. Die Ordnung und Schönheit der Wiederholung ist eine abstrakte Größe, die auf dem Papier, aber nicht im wahren Leben überzeugt. Die Metastadt Wulfen, 1965 als zukunftweisendes Experiment des flexiblen Wohnungsbaus gefeiert – ein Stahlsteckystem, in das an jeder Stelle und Höhe Wohncontainer wie Schubladen hinein geschoben werden konnten – hat nie funktioniert, weil Menschen zu dieser technischen Modernität kein Verhältnis finden und lieber wie gewohnt wohnen. Es wurde als Bauschadensruine 1988 abgerissen. Dabei liegt unweit das Hügelhaus Marl (Roland Frey, Hermann Schröder), ein 1967 errichteter Wohnhügel von hoher Wohnqualität und optimaler Bodenausnutzung, aber seine Gestalt kam nie an.
Nicht zuletzt das beliebteste Baumaterial der 60er, der Beton, überfordert bis heute viele Menschen. Wo er geistlos als stereotypes, vorgefertigtes Material eingesetzt wird, langweilt er schnell das Auge. Vor allem wenn dahinter eine Rasterarchitektur ohne gestalterische Differenzierung und in riesigem Maßstab steht. Als formal anspruchsvoller Flughafen aus Beton dagegen überzeugt Köln-Bonn bis heute. Die ausdrucksvolle Gestaltung der Kirche in Neviges von Gottfried Böhm (s. K.WEST v. Februar 2009) wäre ohne die Formbarkeit des Betons gar nicht möglich gewesen.
Wohnsiedlung der »Neuen Stadt Köln-Chorweiler«, diverse Architekten, ab 1957.Foto: Bardewyk_pixelio.de
Dass bei aller Scheußlichkeit einer reglementierten Massenproduktion die 60er dennoch keinen Ausverkauf der Baukunst darstellen, verdanken sie der Kreativität und dem Beharrungsvermögen etlicher Architekten. Ihre häufig ebenso nüchterne wie subtile Architektursprache bringt zeitlos elegante Gebäude wie 1962 die Universitätsbibliothek Bonn (Fritz Bornemann, Pierre Vago) hervor, die Weltoffenheit atmet und an das Bauhaus erinnert, oder 1964 das Lehmbruckmuseum Duisburg, das der Architekt Manfred Lehmbruck seinem Vater, dem Künstler, errichtet. Das Museum zählt in seinem Gegensatz von Transparenz und Geschlossenheit, von Konzentration und Kontemplation zu den faszinierendsten Bauten seiner Zeit.
Oder 1969 die geschwungene Architekturskulptur des Schauspielhauses Düsseldorf (Bernhard Pfau), die mit der kühlen Eleganz des Dreischeibenhauses von HPP bis heute wunderbar kontrastiert. Während viele neue Rathäuser der 60er wie gesichtslose Verwaltungsbauten anmuten, besticht das Rathaus Bensberg 1964 (Gottfried Böhm) als symbolhafte Burg für die Bürger, die kongenial die Reste einer alten Burg einbezieht und selbstbewusst modern ergänzt. Wo Architekten gegen die Zumutungen eines ausschließlich ökonomisch verstandenen Rationalismus aufbegehren und das Kontrasterlebnis sinnlicher Vielfalt statt glatter Einheitlichkeit wählen, entsteht eindrucksvolle Architektur. Die Versöhnungskirche von Helmut Striffler in Dachau 1968, die sich mit langen Gängen unter die Erde bohrt, ist einer der unbekanntesten und eindrucksvollsten Bauten der 60er Jahre – bis heute ein Denk-Mal. //
Weitere Informationen unter www.mai-nrw.de
Turm des Rathaus Bensberg, Bergisch-Gladbach. Architekt Gottfried Böhm, 1962–72.
Foto: Arved van der Ropp