»Schärfere Bilder gibt’s nicht.« Kündigt die Nobelpreisträgerin für Literatur 2004 und Dramatikerpreisträgerin 2002 in »Babel« an. Sage da einer, dass es in Mülheim nur um Texte ginge. Elfriede Jelineks zweiter Angriff auf den Medien- und Irak-Krieg sperrt sich womöglich der Bühnenbearbeitung noch deutlicher als ihr »Bambiland«. Aber Nikolas Stemann, der bereits Jelineks »Werk« gut verbaut hat, reagiert darauf gewitzt, schlau und geschmeidig unangreifbar. Er zieht alle Register mit raffinierten Stil- und Stimmungswechseln, mit nackigen Bunnies und Bubis, mit Killerbienen, Tarzans und Transen. Ein Super-»Meating«, wenngleich in seiner Fülle etwas flau. Das Moralkunstwerk »Babel« ruft auf: das Schlachtfeld Familie – die gute heilige katholische, in der Mutter(gottes) den Killer- Sohn für sich will oder ihren Hänsel als böse Hexe in den Ofen steckt, das Schlachtfeld Staat und das Schlachtfeld Körper. Der Krieg der Körper als Krieg dem Körper! Der Mann ist da bekanntlich der Herr – über die Sprache und andere Waffen. In dem phallischen Diskurs unterwirft sich Frau Mutter: anarchisch, kannibalisch, anal, rektal und sonst wie. Alles ist drin in der XXL-Geschichte. Jelinek bringt uns wieder die Flötentöne bei, zumal der Schrei des Marsyas quasi zum apollinischen Programm gehört. Der Kontrast und die Distanz zur pädagogischen Anstalt, die Österreichs Textflächen-Verbreiterin selbst formuliert, setzt Stemanns Uraufführung fort, indem er anfangs nur Text aus dem Lautsprecher fließen lässt, das Licht an- und ausknipst, einen roten Vorhang vor den nächsten zieht, Puppentheater und Froschkonzert aufbietet und immer wieder die Fleischbeschau als Lock- und Abwehrmittel propagiert – bis in die grellste Überbelichtung.
Sieben Stücke wählte die Jury für die 31. Mülheimer Theatertage aus, die vom 13. Mai bis 4. Juni stattfinden. Ein starker Jahrgang – auch dank der Inszenierungen. Das Festival deutschsprachiger Dramatik hat sich in zwei seiner Positionen ebenso entschieden wie das zeitgleich ausgetragene Berliner Theatertreffen, indem »Dunkel lockende Welt« von Händl Klaus als Eröffnung und »Der Kick« zum Finale gezeigt werden. Aufführungen, wie sie gegensätzlicher nicht sein können: phantastisch-verspielt die eine, beklemmend realitätsverhaftet die andere. Das Berliner Maxim Gorki Theater, das den »Kick« von Andres Veiel / Gesine Schmidt uraufgeführt hat, ist mit einer zweiten Produktion vertreten, »Draußen tobt die Dunkelziffer« (Regie Stephan Müller) der 35-jährigen Feldforschungs- Autorin Kathrin Röggla: 72 sauber recherchierte Splitterszenen über Schuldenkrise, Existenznot und Kaufrausch. Einen spezielleren System-Crash verursacht diesmal René Pollesch. »Cappuccetto Rosso« (Prater der Volksbühne, koproduziert mit Salzburg) spürt dem Warenfetischismus in der Darstellungs- Industrie von Theater und Film nach und outet deren zynische Verwertungsmechanismen am Beispiel des Hitler-Hypes und der Untergangs-Lust.
Die Metropolen-Bühnen machen diesmal wieder das meiste aus und her: Berlin, Baumbauers Münchner Kammerspiele und zweimal das Wiener Akademietheater der Burg: mit Jelinek und Gert Jonkes kauzig versponnenem, aberwitzigem Luftschloss »Die versunkene Kathedrale« (Regie Christiane Pohle), in dem sich ein Ehedrama verflüchtigt, zwei Junge von zwei Alten ins Heim gesteckt werden, weil sie angeblich am »morbus ritardando « leiden, und der Wörthersee überlauft. Moritz Rinkes Hartz IV-Report »Café Umberto « wird hingegen nicht in der Düsseldorfer Uraufführung, sondern vom Bremer Theater dargeboten. Das »stücke«-Spektrum – so weit gespannt wie die geografische Entfernung von Bremen und Berlin nach München und Wien – reicht vom eleganten Boulevard (Händl Klaus) über sprachpoetisches L’Artpour- L’Art (Jonke) bis zur Krisenbetrachtung des Arbeits- und Kapitalmarktes (Rinke, Röggla), akutem Doku-Theater (Veiel) und lukullisch kannibalischer Soap (Jelinek). Die einander fernsten Positionen bilden Händl Klaus und Andres Veiel – deshalb noch ein genauerer Blick auf sie. »Weil man nichts hat, was man sonst machen kann«, sagt einer der Täter über sein Tatmotiv: die knappste, schlüssigste und schlimmste Erklärung für den Mord an dem halbwüchsigen Marinus, begangen im Juli 2002 im brandenburgischen Potzlow von zwei Gleichaltrigen und einem 23-Jährigen. »Anschließend«, sagt jemand, »war der Druck raus«. Denn sie wissen nicht, was sie sagen… Veiel (»Black Box BRD«) macht aus seiner filmdokumentarischen Könnerschaft das Beste für die Bühne – seine Recherche bringt die Leute – Zeugen, Betroffene, Eltern, Freunde, Lehrer zum Reden. Man denkt an »Die Ermittlung« und andere Protokollierungen des Inhumanen, montiert zu einem dichten Stück Gegenwart bei bewusst karg gehaltenem »Rollenspiel« der beiden Darsteller Susanne-Marie Wrage und Markus Lerch. Neutral aber ist dieser Abend nicht – Veiel gibt der Ratlosigkeit und dem Entsetzen durchaus Ausdruck. Wenn die Schauspielerin Wrage Bachs »O Haupt voll Blut und Wunden « singt und den Gethsemane-Satz »Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? « ausspricht, zitiert sie zwar den Pastor während der Trauerfeier für Marinus, gibt zugleich jedoch einen Kommentar ab – zu einem gottverlassenen Ort und Geschehen. Und den Schattenrissen vielfach beschädigter Leben: sozial desolat, abhängig vom Alkohol, von krimineller Energie, intellektuell mehr als schlicht. Dieser maß- und wertlosen Welt kommt man indes nicht bei mit dem Staatsanwalt und seinem Diktum: »Es fehlt der zivilisatorische Standard«. Die Menschen, die einen wie die anderen, die hier eine Stimme bekommen, sind wie ummauert. Es geht nicht darum, Verständnis für die Untat aufzubringen, wohl aber um den Versuch, das Unfassbare zu verstehen.
»Wir werden ja ständig vom Leben geprüft. « Und »Ce sont toujours les autres qui meurent« (Marcel Duchamp). Schön gesagt – und noch schöner ausgespielt, nämlich wider die Schwer- und Fliehkräfte, auch wenn diese Sätze jetzt als sarkastischer Kommentar zum »Kick« verstanden werden könnten. So ist es aber ganz und gar nicht. »Dunkel lockende Welt«, als Stück ein Halbschwergewicht, das ahnungsvoll mit den Gespenstergeschichten der Tania Blixen operiert, verwandelt sich unter der Hand des Sebastian Nübling in eine kunstvolle Revue mit easy listening und anderen Geschmeidigkeiten, im Stil der Sechziger, elegant, schwebend, artistisch. Es ist eine seltsam den Tod umkreisende, den thrill sowie den Slapstick streifende, das Kriminalistische und allerlei Verdächtigungen benutzende und die Sünde berührende Angelegenheit unter Drei, ist Grundlagenforschung des Mit- und Gegeneinanders von Mann und Frau, von Joachim (Jochen Noch), Corinna (Wiebke Puls) und Mechthild (Gundi Ellert), ist vielleicht Ehe- oder Familiendrama oder nichts dergleichen, inklusive Wiederkehr des Verdrängten und Realitätsverschiebung, surreal- buñuelhafter Einsprengsel, abgedrehter Zwangshandlungen und Säuberungsrituale. Denn Neurotiker sind ja von Natur aus unbotmäßig und nichts als ihrem System gegenüber verpflichtet.
Womit wir schon fast wieder bei Pollesch wären. Um es mit dem »Stadt als Beute«-Neurotiker zu sagen: »Das Leben kommunizieren ist nicht so leicht wie die in der Scheißrepräsentation sich das denken«. Darauf einen Cappuccino. //
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