Adel verpflichtet. Also ließ der Herzog von Looz-Corswarem die Maßwerkfenster des Kreuzgangs zumauern, die Klosterbibliothek versteigern und die Kirche abreißen. Die wertvollen Bausteine wurden verkauft, aber einige konnte man selbst gebrauchen, zum Beispiel eine Altarplatte, die in der neuen Remise den Boden unter den Kutschrädern befestigte. Das war in den 20er Jahren des 19.
Jahrhunderts, Napoleon hatte das Puzzle der europäischen Landkarte neu gelegt und dabei auch einige Stücke in und nach Westfalen verschoben. Eines von ihnen kam aus dem heutigen Belgien, auf ihm saß der Herzog von Looz-Corswarem, der für niederländischen Landverlust zu entschädigen war. Nun wurde er »gefürsteter Graf des teutschen Reichs« und Herrscher des frisch ausgedachten Landesfürstentums Rheina-Wolbeck, das sich als Territorialhandtuch von Greven bis Lingen 80 Kilometer entlang der Ems schlängelte.
Seine Hauptstadt wurde das heutige Rheine, seine Residenz das Kloster Bentlage, das schon drei Jahre zuvor, 1803, wie aller kirchliche Besitz säkularisiert worden war und nun zum Schloss umgebaut wurde.
Das war das vorläufige Ende einer spirituellen Nutzung, die im Jahre 1437 mit der Gründung des Klosters durch den Kreuzherrenorden begonnen hatte; Bentlage war ein uralter, erstmals 890 erwähnter Siedlungsort am Ufer der Ems, der zum Bistum Münster gehörte. Die Mönche errichteten einen vierflügeligen Bau mit Kreuzgang und recht großer Kirche, der – zurückgeworfen durch schwedischen Beschuss im 30-jährigen Krieg – 1657 endlich vollendet war. Schon wenig später bewegte sich die Klosterarchitektur, so als ahne sie ihre künftige Nutzung, auf gera dezu barockschlossartige Weise in die Landschaft hinaus: Ab 1738 errichtete man in Verlängerung einer Zufahrtsallee Torhäuser, Gräften und eine Auffahrt mit Brücke, zog im Innern Stuckdecken ein und genehmigte sich ein um Eleganz bemühtes Treppenhaus.
Seine wechsel- und leidvolle Geschichte sieht man dem Kloster Bentlage an, es ist ein narbenreicher, verstümmelter und dennoch freundlich-verwunschen wirkender Bau, der zudem in eine Kulturlandschaft gebettet liegt, die über Jahrhunderte hin ihr Gesicht nicht wandelte: nicht unter den belgischen Grundherren, nicht durch Industrialisierung oder Flurbereinigung. Zu durchwandern ist immer noch die spätmittelalterliche Flur mit Eichen, Bildstöcken, Trockenweiden und Feuchtwiesen.
Dass ein seltenes Zeugnis spätmittelalterlicher Handwerkskunst und vorneuzeitlicher Gläubigkeit im Kloster Bentlage heute zu bewundern ist, ist hingegen Glück: Der Abbruch der Kirche hatte viele bedeutende Kunstwerke zerstreut; als aber in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts Gebäude und Land an die Stadt Rheine verkauft wurden, übergaben die Erben der Looz-Corswaremser dem neuen Eigentümer ein weiß übermaltes Unding zum Entsorgen, das sich nach vorsichtigem Abkratzen als ein Reliquienschrein von ganz außergewöhnlicher Gestaltung erwies; mittlerweile weiß man, dass er von Bersenbrücker Nonnen hergestellt und im Jahre 1499 geweiht wurde.
Viele Dutzende von Märtyrer-Armknochen – die meisten mit angeheftetem Echtheitszertifikat – bilden die Äste eines Lebensbaums, dessen Stamm und Hauptast von einem Kruzifix gebildet werden. Die Äste – die Knochen – blühen, das heißt an sie sind unzählige Blüten angebunden, die aus Draht gebogen und mit Papyrus und farbigen Seidenstofffetzen umwunden sind; oft schimmert in der Mitte eine Flussperle. Es ist ein faszinierendes, in Deutschland einzigartiges christliches Meditationsobjekt, das nun im geheimnisvollen Halbdunkel im Ostflügel des Klosters zu sehen ist, neben einem weiteren Schrein ähnlicher Machart.
Diese ungeheure Kostbarkeit, in der das ob seiner gedanklichen Vollkommenheit so faszinierende kosmologische Denken des Mittelalters ausgedrückt ist, wird im Museum Kloster Bentlage flankiert von einigen nicht unbedeutenden Sakralplastiken, etwa einem Apostelzyklus des Münsteraners Heinrich Brabender (1500), nebst Werken aus Barock und Renaissance von geringerem künstlerischen Werk. Ein Stockwerk höher, und schon ist ein halbes Jahrtausend vergangen: Hier, in der sogenannten Westfälischen Galerie, sind Werke der malerischen Moderne mit westfälischem Bezug ausgestellt – Dauerleihgaben des Westfälischen Landesmuseums Münster.
Und das heißt Arbeiten von Christian Rohlfs und Peter August Böckstiegel, von den Vettern August und Hellmuth Macke, Josef Albers, Fritz Winter, Otto Modersohn, Emil Schumacher. Auf breiten, vor Alter knarrenden Dielen gehend, schaut man in den hoch oben sich schließenden First hinauf, bevor der irritierte Blick auf ein Bild des Soester Malers Wilhelm Morgner von 1912 fällt, das Keith Haring als Muster gedient haben könnte.
Seit zehn Jahren ist mit diesen Sakral- und Kunstwerken die Spiritualität nach Bentlage zurückgekehrt – mit dem Museum sowie mit all den anderen kulturellen Aktivitäten von bewundernswert qualitativem Niveau, die das mittlerweile nach allen Regeln der Denkmalpflege restaurierte Klostergebäude beleben. Neben Konzerten sind dies vor allem die Ausstellungen, die das Kulturforum Rheine und sein rühriger Geschäftsführer Martin Rehkopp organisieren – Ausstellungen, die man auf dem Land, am äußersten nordwestlichen Zipfel Nordrhein-Westfalens, nicht, eher in einem großstädtischen Kunstverein vermutet. So waren zum Beispiel in diesem Jahr Installationen von Ute Marion Poeppel in der sogenannten Ökonomie des Klosters ausgestellt, gab es eine ambitionierte künstlerische Begegnung zwischen Chinesen und Deutschen in der ursprünglich zum Klostergut gehörenden Saline Gottesgabe mit den faszinierenden installativen Plastiken von Jin Jiangbo oder den Video-Arbeiten von Xu Tan, die im Dialog mit Werken der Fotografin Anja Jensen oder den architektonisch-skulpturalen Eingriffen von Maik und Dirk Löbbert standen. Derzeit ist eine Ausstellungen der mächtig-zarten Holzarbeiten von Benedikt Birkenbach zu sehen; im nächsten Jahr folgen Bilder von Holger Käsch.
An die 100.000 Besucher sieht Kloster Bentlage alljährlich; es scheint, dass die Mischung aus Natur, Anciennität und Wagemut etwas ist, das mehr Menschen auf dem Lande anzieht als so manches Event die übersättigten Zuschauer im Ballungsraum.