TEXT: MARTIN KUHNA
Zu viel Aufregung in den Medien? »Über die Berichterstattung sage ich jetzt mal nichts«, antwortet Christoph Brockhaus. Als Mitglied des Beirates der Berliner »Arbeitsstelle für Provenienzforschung« möchte er stattdessen einige Fakten darstellen – woraus man indirekt schließen kann, dass er Fakten und Sachlichkeit in der öffentlichen Diskussion hier und da vermisst. Ein Gutes habe die Diskussion aber allemal, sagt Brockhaus: Zu lernen sei aus dem Fall Gurlitt, dass nicht nur öffentliche Institutionen wie Museen, Archive und Büchereien aufgefordert seien, ihre Bestände mit Blick auf zweifelhafte Herkunft zu prüfen, sondern auch private Besitzer. Und das, fügt Brockhaus hinzu, »schließt Händler mit ein«. Er sieht es als eine »gesamtgesellschaftliche Aufgabe«, die Folgen nationalsozialistischer Kunstpolitik und Raubzüge transparent aufzuarbeiten und »in absehbarer Zeit reinen Tisch zu machen«.
Christoph Brockhaus räumt ein, dass er und Kollegen seines Alters die Ankaufspolitik deutscher Museen nach dem Krieg früher viel zu unkritisch als eine Art Wiedergutmachung an zuvor verfemter Kunst akzeptiert hätten. Sie hätten »nicht nachgefragt, woher denn die Kunst auf dem Markt kam; da waren wir zu unsensibel«. Das Problem sei zwar im Prinzip bekannt gewesen, »aber es war nicht in unseren Köpfen«. Wer nicht schon früher durch eine Restitutionsforderung darauf gestoßen wurde, sei in der Regel erst 1998 durch die »Washingtoner Erklärung« über Rückgabe geraubter Kunst mit dem Thema konfrontiert worden. Es gebe da noch viel nachzuholen. Doch wenn jetzt im Zusammenhang mit »Gurlitt« zu lesen sei, dass Museen die Aufarbeitung blockierten, dass es für Provenienzforschung kaum Ressourcen gebe, sei das falsch. In Wahrheit habe sich seit 2008 viel getan.
2006 hatte es den letzten großen Skandal um »Raubkunst« gegeben, als renommierte Museen umstrittene Gemälde restituierten, die anschließend auf dem Kunstmarkt für Millionen versteigert wurden. Damals sagte Lehmbruck-Direktor Brockhaus im Gespräch mit K.WEST, die Bundesregierung habe ihn und seine Kollegen »hängen lassen«, weil die Politiker zwar die »Washingtoner Erklärung« unterzeichnet, den Museen aber kein Geld für Provenienzforschung und den Rückkauf restituierter Werke zur Verfügung gestellt hatten.
Welche Mühe Provenienzforschung macht, hatte Brockhaus kurz zuvor erfahren, als das Lehmbruck Museum sich aufgefordert sah, Emil Noldes »Buchsbaumgarten« an die Erben des ursprünglichen Besitzers zurückzugeben. Dem Direktor ging der Fall so nahe, dass er sich selbst an die Recherche machte. Am Ende ergab sich, dass der ursprüngliche Besitzer, ein Jude, das Bild zwar zu NS-Zeiten verkauft hatte – aber wohl noch nicht unter nazistischem Zwang. Obendrein verkaufte er an einen anderen jüdischen Sammler, der sich erst später zur Emigration genötigt sah und das Bild mitnehmen konnte. Es gab auch keinen Hinweis darauf, dass damals ein Opfer der NS-Politik das andere übervorteilt hätte. Das Bild blieb in Duisburg, der Fall wurde abgeschlossen. Er hatte Brockhaus ein Jahr lang einen großen Teil seiner Zeit gekostet. Aber so müsse das heute eigentlich nicht mehr sein, sagt er.
Denn, so Brockhaus: 13 fest angestellte Provenienzforscher gibt es inzwischen in Deutschland, dazu etwa 60 projektbezogene, befristete Stellen. An mehreren Universitäten und Institutionen wird über das Thema geforscht; es wurden und werden junge Wissenschaftler mit dem nötigen Fachwissen vertraut gemacht; es gibt zahlreiche Magisterarbeiten und Dissertationen zum Thema. Fachkräfte für die Provenienzforschung stehen in wachsender Zahl zur Verfügung. Seit 2008 wurden über die Berliner »Arbeitsstelle« 14,5 Mio. Euro für Provenienzforschung ausgegeben – 8 Mio. vom Bund, 1,36 von der Kulturstiftung der Länder, 5,1 von den Projektträgern. In Nordrhein-Westfalen addierten sich 500.000 Euro Förder- und 460.000 Euro Eigenmittel.
In 130 öffentlich geförderten, kurz- und langfristigen Forschungsprojekten wurden über 90.000 Objekte in 67 Museen geprüft, außerdem 500.000 Druckwerke in 20 Bibliotheken. Die kurzfristigen Projekte, erklärt Brockhaus, ergeben sich meist aus konkreten Forderungen auf Rückgabe einzelner Werke. Langfristige Projekte laufen ein oder zwei, maximal drei Jahre lang und beziehen sich auf Teilbestände, die in den jeweiligen Häusern als verdächtig gelten. Auch in Nordrhein-Westfalen wurden Projekte beider Arten abgewickelt; beteiligt waren Häuser wie Museum Folkwang, LVR-Landesmuseum Bonn, Kunstsammlung NRW und Museum Kunstpalast Düsseldorf, Museum Ludwig in Köln.
In vielen strittigen Fällen kam es nach der Überprüfung zu Restitutionen oder »fairen und gerechten Lösungen«. Die Formel bedeutet, dass sich zwischen Verlust und Behalten Kompromissmöglichkeiten für die betroffenen Häuser ergaben: Rückkauf nach Restitution, Verbleib der restituierten Werke im Museum nach Zahlung einer Entschädigung oder als Dauerleihgabe. Über solche Kompromisse »bin ich sehr froh«, sagt Brockhaus, denn sie zeigen: Dem Eingeständnis, dass ein Kunstwerk auf krummen Wegen ins Haus gelangte, muss nicht unausweichlich der Verlust dieser Arbeit folgen.
Auch was Beratung und finanzielle Unterstützung angeht, möchte Brockhaus Hüter und Besitzer von Büchern und Kunst ermutigen, ungeklärte Fragen anzugehen. Das »gehört übrigens zu unseren Aufgaben«, sagt er an die Adresse seiner Kollegen, »Man muss sich damit beschäftigen«. Die Zeiten, da Museen mit diesen Problemen »hängen gelassen« wurden, seien vorbei. Mit der Berliner »Arbeitsstelle für Provenienzforschung« und der Magdeburger »Koordinierungsstelle Kulturgutdokumentation/Kulturgutverluste« stünden heute kompetente Berater bereit. Wer sich mit Fragen und begründeten Forschungswünschen an sie wende, »darf dort jedes Entgegenkommen erwarten«. Wichtig sei, dass längerfristige Forschungsprojekte sinnvoll zugeschnitten werden: »Größere Häuser können kaum ihre gesamte Sammlung durchforsten lassen.« Aber für Direktoren und Kuratoren sollte es leicht möglich sein, Teile der Sammlung nach Verdachtsmomenten für eine Untersuchung auszuwählen und dafür Fördergeld zu beantragen. Schließlich gelte es, die Arbeit zu delegieren, damit nicht leitende Mitarbeiter des Hauses über Monate ihre eigentlichen Aufgaben vernachlässigen müssen. Auf dem freien Markt gebe es heute genügend wissenschaftlichen Nachwuchs mit Interesse an und Kompetenz für die Provenienzforschung.
Bislang, sagt Brockhaus, stünden beim Thema Raubkunst und Provenienz stets größere und bekannte Häuser im Mittelpunkt. »Aber es gibt allein in Deutschland 6.000 Museen – was passiert eigentlich in den kleinen Häusern, von denen man nie etwas hört oder liest in den Medien?« Auch dort gebe es zweifellos frag-würdige Bestände. Dass die kleinen Museen »nun wirklich nicht viel Geld« hätten, müsse kein Hinderungsgrund sein, denn auf den üblichen Eigenanteil könne bei der öffentlichen Förderung in begründeten Fällen verzichtet werden. Außerdem sei es sicher sinnvoll, wenn sich kleinere Häuser in Sachen Provenienzforschung zu gemeinsamen Projekten zusammenschließen. Wäre das, zum Beispiel, eine Aufgabe für jene 20 Häuser, die sich zum Netzwerk der »RuhrKunstMuseen« zusammengetan haben? Durchaus, sagt Brockhaus, »eine gute Idee«.
Dass Museen sich den Medien gegenüber zuweilen »zugeknöpft« geben, wenn es um Raubkunst und Provenienz geht, müsse nicht verdächtig sein, meint Brockhaus. In der Recherche-Phase sei es sogar wichtig, mit Fällen unsicherer Provenienz »nicht voreilig an die Öffentlichkeit zu gehen; das muss ordentlich zu Ende gebracht werden können.« Gerade die »fairen und gerechten« Kompromisslösungen geraten leicht in Gefahr, wenn öffentlich darüber spekuliert wird. Nach Abschluss eines Projekts dagegen »erwartet die Arbeitsstelle für Provenienzforschung, dass der Vorgang öffentlich und transparent gemacht wird«. Diese Ergebnisse dann auch überregional zu kommunizieren, sei wiederum künftige Aufgabe der Berliner und Magdeburger Institutionen, die allerdings derzeit beide mit Arbeit am Fall Gurlitt »zugedeckt« seien.
Die Betreuer öffentlicher Sammlungen sind qua Amt dazu verpflichtet, Bestände unklarer Herkunft darauf zu prüfen, ob sie irgendwann durch die Hände »ausmerzender« NS-Kulturbürokraten oder raffgieriger Bonzen und deren Greifkommandos gegangen sind. Bei einstigem Beutegut in privater Hand – Brockhaus vermutet da einen riesigen Bestand teils hoher Qualität – dürfte es in erster Linie eine Gewissensfrage sein, ob man einem Verdacht nachgeht oder nicht. Wer sich im Stillen an Raubgut oder Hehlerware freuen will, den wird man daran nicht hindern können. Sobald es aber um den Verkauf eines zweifelhaften Stückes geht, kommt ein pekuniärer Aspekt ins Spiel: »Käufer sind jetzt gewarnt«, sagt Brockhaus, »die wollen sicher sein, dass das Objekt nicht aus trüber Quelle stammt.« Auch ein Motiv, dass sich »der Handel selbst reinigt« und den »Kunstmarkt sauber hält«. Gurlitt sei Dank.