TEXT: REGINE MÜLLER
Es lag schon in der Luft. Aber als 2004 »Rythm is it!« in die Kinos kam, schien eine neue Formel gefunden. Der Film dokumentiert ein Projekt der Berliner Philharmoniker und ihres Chefdirigenten Sir Simon Rattlemit 250 Kindern aus 25 Nationen, die unter Regie des Choreografen und Tanzpädagogen Royston Maldoom eine Aufführung von Strawinskys»Sacre« einstudieren und sich durch die anspruchsvolle Aufgabe von isolierten Randgruppen-Kindern aus problematischem Umfeld zu selbstbewussten, teamfähigen, empathischen und sozial verantwortlichen Menschen entwickeln. Inklusion durch angewandte Kulturtechnik, vor allem eben durch Musik.
Zugleich drangen die Erfolgsmeldungen des Venezuela-Projekts »El sistema« in die Medien, jener Initiative, die Slum-Kindern das Erlernen eines Instruments und das Orchesterspiel ermöglicht. Aus dem Programm ging u.a. der Wunder-Dirigent Gustavo Dudamel hervor. Klassischer Musikunterricht, bzw. überhaupt das klassische Musizieren, lange Zeit unter Elite-Verdacht, bekam neuen sozialen Beigeschmack. Und wurde damit für die Politik interessant. Obwohl oder gerade weil Jahrzehnte lang der Musikunterricht in den Schulen ausgehungert wurde.
Zeitgleich mit dem »Rythm is it!«-Projekt gründete sich 2003 in Bochum die Initiative »Jedem Kind ein Instrument« (JEKI) als Kooperation der Musikschule Bochum, der Zukunftsstiftung Bildung in der GLS Treuhand e.V. und den Bochumer Grundschulen. Sie sprach sich schnell herum und fand auch überregional Anklang. 2006 beschlossen die Kulturstiftung des Bundes, die Zukunftsstiftung Bildung und das Land NRW – damals unter der CDU und Jürgen Rüttgers – das Projekt unter Trägerschaft einer eigens gegründeten Stiftung auf das ganze Ruhrgebiet auszudehnen und zugleich als Kooperationsprojekt der Kulturhauptstadt Ruhr.2010 anzugliedern. Nach der vierjährigen Einführungsphase beendeten sowohl Kulturstiftung des Bundes als auch Zukunftsstiftung zum Ende 2011 ihre Förderung; seit dem Schuljahr 2011/12 ist das Land NRW alleiniger Förderer mit jährlich rund 10 Millionen Euro.
GUTE ZAHLEN
JEKI ermöglicht allen Schülern der beteiligten Grundschulen unabhängig von Herkunft und familiärem Hintergrund in der ersten Klasse einen Basis-Musikunterricht. Zunächst im Tandem mit dem Lehrpersonal machen Musikschullehrer die Kinder mit bis zu 16 Instrumenten bekannt. In der zweiten Klasse wählen sie dann ihr Instrument aus, das sie leihweise anvertraut bekommen; ab der dritten Klasse kommt Ensemblespiel hinzu. Das erste Jahr ist kostenfrei, im zweiten Jahr fallen maximal 20 Euro pro Monat an, im dritten und vierten Jahr für Ensemble- und Instrumentalunterricht zusammen 35 Euro. Die Hälfte der Instrumentenkosten müssen die Kommunen durch Spenden einwerben. 42 Kommunen beteiligen sich inzwischen an JEKI, 634 Grundschulen, 56 Musikschulen und 26 Förderschulen. Insgesamt rund 60.000 Kinder im Ruhrgebiet nehmen daran teil.
Die Zahlen klingen großartig. Eine Erfolgsgeschichte? Doch wird auch Kritik laut. So bezeichnete Christian Höppner vom Deutschen Musikrat JEKI als Beispiel für die »massive Eventisierung der musikalischen Bildung« durch Politik, für die die Investition in normalen Regelunterricht eben »unsexy« sei. Auch die Musiker in der Gewerkschaft ver.di haben massive Zweifel formuliert, die vom Vorwurf, das Projekt sei nicht zu Ende gedacht und die Standards nicht genügend festgelegt, bis zur Erfahrung reichen, dass zu viele Kinder nach der zweiten Klasse aussteigen, dass das »Projekt offenbar nicht weiter von Interesse« sei. Auch die Musikschulen beklagen die Zahl der Abbrecher. Nach dem Ende der JEKI-Zeit liege die Quote derer, die dabei blieben, bei kümmerlichen 17 Prozent, gab jüngst die Musikschule Hamm zu Protokoll. Skepsis auch von prominenter Seite. Die Bratschistin Tabea Zimmermann vermisst Qualität und bemängelt, »dass man so wenig lernt in einem Jahr. So wenig sollte man Kindern nicht zutrauen«.
WENIGER GUTE INHALTE
Michael Becker, Intendant der Düsseldorfer Tonhalle und Symphoniker sowie mehrfacher Vater, bevorzugt einen anderen Bildungsansatz: »Ich bin selbst ein Knabenchor-Kind und persönlich kein großer Anhänger von Instrumental-Unterricht für Kinder, die nicht vorher singen können. Deshalb finde ich das Düsseldorfer Projekt ›SingPause‹ ungleich sinnvoller, weil es grundsätzlicher ansetzt. Und einfacher zu realisieren ist.« Auch er hat den Verdacht eines »Vorzeigeprojekts«, mit dem »vor allem die Politik gut dastehen« solle, die die Grundversorgung nicht mehr hinkriege. Für den Profi-Nachwuchs bringe JEKI vermutlich nichts. Die eigenen Kinder schickt Becker zum Einzelunterricht. Dessen Zukunft aber wiederum durch die Ganztagsschule bedroht sei: »Wann soll da noch qualifizierter Einzelunterricht stattfinden? Wann sollen die Kinder üben? Dafür müssten sie in der Ganztagsschule eigentlich frei gestellt werden. Oder wir brauchen mehr spezielle Schulformen, so wie Sportgymnasien.«
Die Kritik verhallt nicht ungehört. 2008 vergab das Bundesministerium für Bildung und Forschung den Auftrag zu einer empirischen Bildungsforschungsstudie mit 13 Forschungsvorhaben zu JEKI. In diesem Monat wird der Abschlussbericht publiziert, ein Folge-Forschungsschwerpunkt bis 2015 wurde bereits eingerichtet, um die musikalischen Bildungsverläufe der JEKI-Kinder zu verfolgen. Systematisch erforscht wurden bislang Aspekte wie Kooperation, Teilhabe und Teilnahme, Wirkung und Unterrichtsqualität bis zu Fragen nach kindlicher Kognition und Affekt, Stresserleben und Gedächtnisleistungen. Also vornehmlich das, was man mit dem Zauberwort Transfereffekte bezeichnet. Nämlich all das, wozu Musik über sich selbst hinaus den Menschen bzw. das Kind ertüchtigt. Ulrike Kranefeld von der Uni Bielefeld ist federführend beteiligt: »Zu unserer Untersuchung muss man sagen, es ist keine Evaluation! Wir sind nicht angetreten, um das Programm zu bewerten, sondern es sind eher Projekte der Grundlagenforschung, die aber trotzdem Hinweise auf mögliche Verbesserungen und Veränderungen von JEKI liefern können. Das liegt auch an der Finanzierung durch das Ministerium, worüber wir sehr froh sind, denn diese macht uns in der Forschung unabhängig gegenüber Erwartungshaltungen der beforschten Programme.«
Grundsätzlich begrüßt Kranefeld JEKI, wenngleich sie ein ebenso grundsätzliches Problem sieht: »Es gab einfach eine Schwierigkeit am Anfang des JEKI-Programms, dass die Zielsetzung nicht ganz klar war, und dass dadurch viel Raum für Projektionen produziert wurde. Zum einen gab es die Projektion, dass durch JEKI ›Jugend-musiziert‹-Kinder, vielleicht sogar spätere Profimusiker gerade in den Bevölkerungsschichten gefunden werden, die sonst eher wenig Zugang zu diesen Angeboten haben. Die konträre Projektion zu dieser Wunschvorstellung ist die, dass das JEKI-Programm eigentlich vor allem darauf abzielt, soziale Inklusion herzustellen«. Die Widersprüchlichkeit der Ziel-Projektionen, sagt sie, sei aus ihrer Sicht zustande gekommen, »weil sich die Initiatoren am Anfang nicht klar genug positioniert und damit viel Raum für eine kontroverse öffentliche Zieldiskussion eröffnet haben«.
Vielleicht sollten die Macher klarer kommunizieren, dass JEKI kein musikalisches Bildungsprogramm ist, das Wunderkinder hervorbringt und den qualifizierten Einzelunterricht nebst betreutem Üben ersetzt. Sondern vor allem ein Inklusions-Projekt mit positiven psycho-sozialen Nebeneffekten.