»›Herkunft‹ ist ein Buch über meine Heimaten, in der Erinnerung und in der Erfindung. Ein Buch über Sprache und Scham, Ankommen und Zurechtkommen, Glück und Tod.« Man sollte eigentlich keine Klappentexte zitieren, in diesem Fall muss man eine Ausnahme machen, da die Zeilen von Saša Stanišić selbst stammen und er darin sein Leben, seine Biografie, mit nur zwei Buchstaben auf ihren Kern komprimiert: Heimaten. Heimat im Plural. Das ehemalige Jugoslawien und Deutschland.
Saša Stanišić, 1978 in Višegrad an der Drina geboren, floh während des Krieges 1992 mit seiner Mutter nach Deutschland, sein Vater folgte später nach. Seine Jugend verbrachte er in Heidelberg, heute lebt und arbeitet er in Hamburg. Sein Debütroman »Wie der Soldat das Grammofon repariert« wurde bislang in 31 Sprachen übersetzt, der sprachschöne Nachfolger »Vor dem Fest« über ein uckermärkisches Dorf wurde zu Recht zum durchschlagenden Erfolg. Für »Herkunft« gibt es keine direkte Schublade zum Genre-Einsortieren. Kurzgeschichten nein, Roman erst recht nicht. Eher ein literarischer Erinnerungsfluss, der Gegenwart und Vergangenheit durchmisst. »Meine Familie lebt über die ganze Welt verstreut. Wir sind mit Jugoslawien zerbrochen und haben uns nicht mehr zusammensetzen können.«
Trotzdem verzahnt Stanišić diese Fragmente der gemeinsamen Familiengeschichte lakonisch wie romantisch, was wie immer bei ihm grandios zusammengeht. Es kommen unter anderem vor: seine Großtante, die Astronautin werden will, Drachen, seine Großmutter, für die Flucht nie infrage kam und die in ihrer Demenz verloren geht. Nationalismus, Vertreibung, Fremdheit, Ankommen, eine ARAL-Tankstelle als Nabel der Welt und Joseph Eichendorff, jener schwerstromantische Dichter, der eigentlich Beamter war. Oder andersherum. Der mit den rauschenden Wipfeln und der sich ausspannenden Seele. Als flöge sie nach Haus.
Für Stanišić reicht schon ein bestimmter Geruch, um innerhalb einer Zeile die Zeitebenen zu wechseln. Wie die gefüllten Paprika, die nach einem »schneereichen Tag im Winter 1984« riechen. Da war er sechs Jahre alt, die Welt in Ordnung. 2009, bei einem Besuch in der alten Heimat, im heutigen Bosnien, tischt seine Großmutter erneut dampfende Paprika auf, die Häuser der Nachbarn aber bleiben Ruinen.
Der gemeinsame Besuch eines Fußballspiels mit seinem Vater im April 1991 – Roter Stern Belgrad gegen Bayern München – wird zur bösen Vorahnung. Das letzte Mal spielen alle Ethnien in einer Mannschaft. »In der Halbzeitpause wurde von Unruhen in Slowenien und Kroatien berichtet. Schüsse waren gefallen. Roter Stern schoss zwei Tore, Bayern eins.« Kurz darauf fällt der Ausgleich, zwei Monate später beginnt der Krieg. Was, wenn das Spiel anders verlaufen wäre, fragt sich Stanišić: »Vielleicht wäre dann überhaupt alles anders gekommen, der Krieg nicht nach Bosnien, ich nicht zu diesem Text.«
Saša Stanišić: »Herkunft«, Luchterhand Verlag, München, 2019
Roman, 360 Seiten, 22 Euro