TEXT: ANDREAS WILINK
Der junge Mann am Steuer summt das Lied mit, das aus dem Player im Auto erklingt: »Les Moulins de mon Coeur« (»The Windmills of your mind«) von 1968, eine der großen Pop-Hymnen des Michel Legrand, im Französischen getextet von Eddy Marnay. Der frankokanadische Regisseur Xavier Dolan hat ein dramatisches Gespür für Filmmusik als emotionalem Verstärker. So setzte er Dalidas schmerzlich tödliches »Bang Bang« als Leitmotiv für seine Ménage à trois, »Heartbreaker«, ein und schuf damit erst die zeitlupenhaft lunaeske Stimmung.
Tom ist unterwegs von Montreal aufs Land zur Beerdigung seines verunglückten Liebhabers Guillaume. Angekommen auf der Farm, merkt er, dass er ein ungebetener Gast, ja, ein gänzlich Unbekannter ist. Der Tote hatte sich seiner Mutter gegenüber nie geoutet; und sein älterer Bruder Francis, der den Hof führt, unternimmt alles, um das Bild von Normalität über den Tod hinaus aufrecht zu erhalten. Es wurde eine fiktive Freundin erfunden. Tom spielt mit. Er gibt dieser Sara, die tatsächlich als gute Freundin existiert, in den Gesprächen (»er sagte – sie sagte«) sein eigenes Gefühl, seine eigene Lust und Fantasie und überträgt auf Sara, was ihn selbst mit dem Verstorbenen an Leidenschaft verband.
»Une partie de mourir« steht auf der Leinwand anfangs Blau auf weißem Grund geschrieben – letzte Worte, mit Filzstift hastig hin gekritzelt, während ein Medaillon mit einem Engel schaukelt. Kaum begonnen, hat Dolon schon mehr erzählt, als andere in 90 Minuten – großartiger (manchmal großspuriger), intensiver, schönheitstrunkener und exzentrisch in der Selbstinszenierung, die ihn seine von ihm selbst verkörperte Figur Tom wie das ungezähmte Kind von Blondie und Jim Morrison präsentieren lässt. Ein Trotzkopf, offensiv herausfordernd und von glühender Nervosität. Partisan der Liebe. Wild at heart.
Wenn Dolan, der 1989 ebenfalls in Montreal geborene Zauberlehrling und Alleskönner des Kinos, der die cineastischen Hexenmeister studiert und einige von ihnen schon überholt hat, mit seiner vorangegangenen Filmtrilogie (»I killed my mother«, »Heartbreaker«, »Laurence Anyways«) das Melodram zu neuen Ufern geführt hat, erkundet er nun – mit 25 Jahren bereits gereift – das Genre des Psychothrillers. Es sieht aus, als würde er Hitchcock und Kubrick, Truffaut und Gus van Sant beerben wollen. Die schnurgerade Straße, die zur Farm führt, lässt an die staubigen Feldwege in »North by Northwest« denken, der Hof wird zum Ort bedrückender Vergangenheit wie das Overlook Hotel in »Shining«. Flucht, Panik, Schuldgefühl und unterdrückte Triebe bedrängen wie in »Psycho« und »Vertigo«.
So erscheint für Guillaumes Bruder Francis der Eindringling Tom wie das verbotene Glück und das leibhaftige Unheil. Ein Verführer, dem man nachgibt oder den man beseitigt. Francis, im Bann der Mutter, die nicht allein bleiben darf und beschützt werden muss, hat das Ungelebte in sich gesammelt, das bei einem Tango mit Tom in der Scheune unbeholfen, rührend grob entweicht. Aber solche Empfindungen dürfen nicht sein. Das Begehren verlangt Selbstbestrafung und verwandelt Francis in eine gefährlich brutale Kampfmaschine. Der ungebärdige Guillaume hat sich erlaubt, was Francis sich versagt.
Gewaltszenen müssten aussehen wie Liebesszenen und umgekehrt, hat Hitchcock gefordert und in seinen Filmen eingelöst. Dolon folgt ihm darin und entwickelt einen Liebesthriller, der manchmal wie ein Horrorfilm aussieht, mit einer Filmmusik, deren schwelgerische Droh-Partitur an Bernard Herrmann erinnert. Es ist eine Initiation in eine Welt des Schweigens und des Verschwiegenen – am Ende ist Tom wieder im nächtlich leuchtenden Montreal. Frei? Befreit?
»Sag nicht, wer Du bist!«; Buch, Regie, Schnitt, Kostüme und Hauptdar-steller: Xavier Dolon; nach dem Theaterstück von Michel Marc Bouchard; Darsteller: Pierre-Yves Cardinal, Lise Roy, Evelyne Brochu; Kanada 2014; 90 Min.; soeben angelaufen