TEXT: ULRICH DEUTER
Es beginnt am 8. Juni 2006 und endet am 11. Juni 2010. Nur, was ist »es«? Ein Text; klar. Doch einer, der verschiedenste Texte ist, die sich ins Wort fallen: Tagebuch, Reflexion, Reisebericht, Referat der Autobiografie eines Dritten und nicht zuletzt Epitaphe-Sammlung. Ein Text zudem, der noch mehr Text, Meta-Text sein will: Leben-als-Text-Text. Text, bei dessen Entstehen der Leser zuschauen soll. Weshalb am Beginn wie am Schluss das Protokoll eines Schreibaktes steht: der Niederschrift des ersten sowie des letzten Satzes dieses Buches. Text, der dies alles, eines aber nicht ist: der Roman, der er vorgibt zu sein.
Dabei hätte alles sehr viel einfacher sein können. Navid Kermani, der, als Orientalist und Vorzeige-Migrant auf alle medialen Bühnen gezerrt, um zu sämtlichen islamproblematischen Themen befragt zu werden, sich als lebensklug und weltweise erwies; Kermani, der brillante (»Gott ist schön«) und unterhaltsame Sachbücher (»Das Buch der von Neil Young Getöteten«) sowie einen etwas bemühten Roman (»Kurzmitteilung«) veröffentlicht hat; Kermani, in einer Midlife-Crisis steckend, weil ihm diese Rollenzuweisungen zu blöd und das Sachbuchschreiben zu langweilig sind, weil das Erfinden eines Romans aber so heikel scheint wie die ganze Existenz zu werden droht – Navid Kermani, 1967 in Siegen geboren aber von der Kultur seiner iranischen Familie beschwingt, ein scharfer Denker, der von der Mystik affiziert ist und daher »Gott« in allem erleben möchte; Navid Kermani also sucht intensiv nach einer neuen Form des Ausdrucks seiner Existenz. Ein Buch als Schnittpunkt von so unendlich Vielem zwischen famili-ärem Alltag, Politik, Reisen, Freundschaften, Logik, Krankheit, Tod, Sex. Schon in »Der Schrecken Gottes« hatte er Religionsphilosophie und Privates, Allah und seine leidende Tante in Verbindung gebracht. Schon Max Frisch, das weiß Kermani sicher, hatte irgendwann aufgehört, Fiktion zu verfassen, und Ich-und-die-Welt zum Gegenstand von etwas gemacht, das er Tagebücher nannte. Das könnte Kermani doch auch. Schließlich beherrscht er, was dazu Grundvoraussetzung ist: die Formulierkunst. Stil. Das beweisen weite Passagen dieses Buches: Reportagen professioneller Reisen nach Afghanistan, Kaschmir und Iran von kühler Genauigkeit; Geschichten aus der Lebensgeschichte seines Großvaters, die, farbig erzählt (übersetzt), ins Persien zu Anfang des 20. Jahrhunderts entführen; liebevoll-traurige Zeichnungen krebserkrankter Freunde und gestorbener Kollegen; kundig zubereitete Lesefrüchte (Hölderlin und Jean Paul); Szenen aus dem Alltag eines iranisch-stämmigen Kölner Intellektuellen zwischen Waschmaschinenreparatur und ZDF-Interview, die zeigen: Hier lebt einer – Gewöhnlichkeit, die niemals banal wird. Banal allerdings ist das immerwährende Kokettieren mit der Schreib-, der Beobachter-Rolle, dem Ich und dem Er, der littérature veritée und deren Aporien. Grad als hätte Kermani just erfunden, was Sterne, Proust, Uwe Johnson, Calvino, Kurzeck und tausend andere schon vor oder neben ihm besser machten. »Der Roman, den ich schreibe« hatte das Buch gar heißen sollen; der neue Verleger Hanser hat es klugerweise nicht gewollt.
Wer nun über all das Meta hinweglesen kann; wer sehr viel Zeit mitbringt; oder den Mut, mal hier, mal da hineinzublättern: Der wird mit vollgültigen Szenen belohnt, die mit gekonnten Schnitten vom Foto der Bergung einer Leiche auf den Kanarischen Inseln zu Dickens zur Zeugung eines Kindes auf dem Schreibtisch zum Schulbesuch des Großvaters zur Hölderlin-Kritik (endlich traut sich mal jemand!) zum Tod von Ligeti springen. Das besitzt dann beinah W.G. Sebald-Qualität, jenen fließenden Strom von der Reflexion zur Beschreibung, von Kopf zu Welt, erwärmt von der Anwesenheit einer Stimme – kaum je hat ein Autor seine strahlende Eitelkeit geschickter unter den Lumpen des Alltags verborgen.
So ist Kermanis Opus magnum, wie er selbst es nennt, kein großer Wurf, aber hunderte Würfe, deren Geprassel fasziniert und erschöpft und den Wunsch weckt, den Kerl mal besuchen zu gehen. Weil man ja jetzt alles von ihm, einschließlich der Hoden-Operation, zu wissen glaubt. Dabei ist alles nur: Text.
Navid Kermani, »Dein Name«, Hanser Verlag, München 2011, 1232 Seiten, 20 Abb., 34,90 Euro
Lesungen: 26.9.11 in der Volkshochschule Krefeld; am 27.9.11 im Café Central des Grillo Theater, Essen; am 4.10.11 im Literaturhaus Köln