TEXT STEFANIE STADEL
FOTOS MARKUS J. FEGER
Unverschämt parkt er auf dem Bürgersteig, verstellt noch dazu den Weg und Blick zum Museum. Ob den dicken blauen Tieflader jemand bestellt hat? Fast sieht es so aus, als sei er eigens angerollt, um Henry Moores gewichtige Bronze-Skulptur wegzuschaffen. »The Archer« heißt die große schwarze Kiste auf der Laderampe des Lastwagens, wie zugeschnitten auf das schwere Stück.
Kunstwerke kommen und gehen. Aber der Laster samt Kiste wird für die nächsten Wochen und Monate im Halteverbot stehen bleiben: als eine von 35 Arbeiten der Skulptur Projekte, erdacht von Cosima von Bonin und ihrem US-Kollegen Tom Burr, den man zum Start der Schau auf der Laderampe in die Sonne grinsen sah. Mitten im Eröffnungstrubel der international gefeierten Freiluft-Ausstellung, die Münster vom Rand ins Rampenlicht der Kunstwelt rückt.
Es ist die fünfte Ausgabe der Skulptur Projekte: Gut hundert Tage lang, fast acht Millionen Euro teuer, mit geschätzten 650.000 Besuchern und mehr Rummel denn je, sodass die Pressekonferenz gleich ins Stadttheater zog. Als gewiss nicht unwesentlicher Grund für das Getümmel saß auf der Bühne Kasper König, der das Ereignis im öffentlichen Raum 1977 mit ins Leben gerufen hatte und seither mit wechselnden Kuratoren-Teams antritt zur neuerlichen »Tiefenbohrung«, wie er es nennt.
Anfangs noch gegen einigen Widerstand, inzwischen ganz mühelos lenkt er als künstlerischer Leiter die Maschine und verbohrt sich zielsicher im weiten Feld aktueller Kunstpraxis. Dort stößt König erwartungsgemäß auf allerhand temporäre, performative, partizipative Positionen. Kunst für den Ort gemacht und auf Zeit gedacht. Werke, die zum Mitmachen einladen. Man darf sich nicht wundern, wenn dieser Tage an der Bushaltestelle in Münster Menschen warten, die einem mit vollem Körpereinsatz ihre eigenen Skulpturen vorspielen wollen – kreiert unter Anleitung von Xavier Le Roy und Scarlet Yu.
Oder wenn in der Kneipe statt Pils und Kölsch ein Bier namens »quiet storm« ausgeschenkt wird, versetzt mit Lindenblütenhonig und während der Fermentierung beschallt von »good vibes« aus der nigerianischen Megastadt Lagos. Das Skulptur Projekt von Emeka Ogboh sorgt auch rund um den Tieflader auf dem Museumsvorplatz mit 7,5 Prozent Alkohol für gute Laune. Noch besser wird sie vielleicht, wenn man weiß, dass Ogboh zur documenta ebenfalls ein Bier ausgibt. Nicht goldgelb und süffig, sondern dunkel und gedankenschwer gibt sich dort sein Gebräu namens »suffer head«.
So nähert sich der Skulpturen-Tourist mit Ogbohs Bier auf der Zunge dem Erfolgsrezept der Veranstaltung, die leichtfüßig, aber nicht oberflächlich ist, intelligent, aber nicht verbissen. Die anspricht, auch anstößt, ohne zu belehren. Die unterhält, dabei aber größeres Spektakel vermeidet. König weiß, wo es langgeht und scheut auch nicht davor zurück, ab und an beherzt ins Lenkrad zu greifen, wie man hier und da heraushören kann. Burr etwa erzählt von Königs Abneigung gegen Moores Plastik auf dem Platz, die zur Idee mit der Kiste geführt habe.
Von Gregor Schneider heißt es, dass er dem Macher einen Vorschlag nach dem anderen unterbreitet habe, bis er mit »Plan f« endlich angekommen sei. Ganz oben im Museum konnte er ihn verwirklichen: Durch einen Nebeneingang und ein kühles Treppenhaus gelangt man zur Wohnung eines mysteriösen N. Schmidt. Wobei nicht recht klar ist, ob sie noch nicht komplett eingerichtet oder schon wieder fast ausgeräumt ist. Im Bad tropft der Wasserhahn, in jedem der unwirtlichen Zimmer steigt einem ein anderer aufdringlicher Hygiene-Duft in die Nase. Am liebsten würde man schnell raus aus der beklemmenden Behausung, aber das ist nicht so einfach, wie man meinen könnte.
Nur wenige Schritte vom Museum, aber weit entfernt von der traditionellen Skulptur auf dem Sockel bewegt sich auch Koki Takana, bekannt für seine sozialen Kunst-Experimente. Einmal ließ er fünf Keramiker zusammen ein Gefäß formen, ein andermal setzte er neun Friseure auf den Kopf einer einzigen Kundin an. Für seinen Auftritt hier hat Takana acht Münsteraner unterschiedlicher Herkunft in einem ehemaligen Atombunker zusammengetrommelt. Dort ließ er sie in Workshops agieren und diskutieren über Fragen des Zusammenlebens. Videos dokumentieren das Miteinander.
Verlässt man das Zentrum der Schau im Umkreis des Museums, bietet sich das Fahrrad an. Von der Promenade aus kaum zu übersehen ist Nicole Eisenmans leicht entgleiste Gesellschaft im Park am Buddenturm. Auf der Wiese hängt sie ab, um einen kleinen Pool herum. Dösend, die Dose Bier in der Hand. Drei der überdimensionierten Typen sind aus Gips geformt, der schon erste Auflösungserscheinungen zeigt. Zwei weitere wurden in Bronze gegossen, scheinen sich aber geradezu aufzulehnen gegen die Erhabenheit, die man einem klassischen Denkmal dieser Machart für gewöhnlich zuschreibt. Spannend, wie Eisenman mit ihrer bizarren Inszenierung auf den Ort reagiert, die alltägliche Park-Situation vielleicht sogar karikiert.
Für den weiteren Weg sind Stadtplan und Orientierungsvermögen gefragt, denn viele der Werke wollen nicht ins Auge springen, sondern gesucht werden. Unauffällig nisten sie sich ein, etwa in einen alten Asia-Shop oder in eine Schrebergartensiedlung. Sie okkupieren ein Tattoo-Studio, breiten sich mit schallschluckendem Teppichboden im Museumsfoyer aus oder liegen im Park, als wären sie schon immer dort gewesen. Von Anfang an sollten die Projekte in Münster auf Gegebenes reagieren. Nicht beliebig verschiebbar sein – in der Kiste per Tieflader.
Auf dem stillgelegten Überwasserfriedhof macht Hervé Youmbi vor, wie Werk und Ort sich in eins bringen lassen. Hoch oben in den Bäumen sind seine Masken zu entdecken. Eigens angefertigt in Werkstätten in Kamerun, zitieren sie einen amerikanischen Horrorfilm und Totenkulte aus Afrika. Auf der christlichen Begräbnisstätte bieten sie Anlass, über mögliche Berührungspunkte von Pop-Kultur, Religion und Aberglaube nachzudenken.
Thomas Schütte hat sich das alte Zoogelände ausgeguckt für seinen drei Meter hohen »Nuclear Tempel«. Das beziehungsreiche Schwergewicht sieht aus wie eine verrostete Mischung aus Reaktor und Gotteshaus. Bei Münsteranern weckt es Erinnerungen an das ehemalige Elefantenhaus. Nebenan ins Entree der Westdeutschen Landesbausparkasse installierte Hito Steyerl ihre beeindruckende Videoarbeit und fühlt sich perfekt in die futuristisch-technokratische Architektur der 1970er Jahre ein. Integriert sind drei Bildschirme. Mit mulmigem Gefühl schaut man zu, wie Roboter getreten, geschubst oder mit dicken Brocken beworfen, irgendwann zu Fall gebracht werden. Interessant zu wissen, dass das Filmmaterial aus einem Labor stammt und wissenschaftliche Untersuchungen zum Balanceverhalten der menschengleichen Maschinen dokumentiert.
Selbst wenn einem die Puste ausgeht, sollte man sich überwinden und stadtauswärts strampeln auf der Steinfurter-Straße bis zum abrissreifen Eispalast. Pierre Huyghe hat die Halle in eine unheimliche Grubenlandschaft verwandelt: Der Beton-Boden ist aufgerissen, in Grundwasser-Pfützen schwimmen Kaulquappen, zwei Lehmkegel sind von Bienenvölkern bewohnt, auf den Tribünen sitzt ein Pfauenpaar. Hier und da öffnet sich das Dach. Wo Licht einfällt, breitet sich zartes Grün auf den Erdhügeln aus. Trampelpfade führen auf und ab durch den technisch-biologischen Mikrokosmos, den immer wieder ein unbestimmtes Dröhnen erfüllt. Dahinter steckt ein komplexes System: Bewegungen im Raum etwa werden an einen Inkubator mit menschlichen Krebszellen weitergeleitet, die reagieren und sich unterschiedlich teilen. Dadurch entstehen wiederum Daten, die an ein vielfältig belebtes Aquarium gehen… Diese Hintergründe muss man nicht unbedingt kennen, um sich von der eigenartigen Atmosphäre einnehmen zu lassen. Nichts scheint vorhersehbar in der eigenartigen Landschaft. Und keiner weiß, wie es in den kommenden Monaten weitergehen wird. Eines aber scheint sicher: Auf dem Tieflader von Bonin und Burr werden Krebs und Kaulquappe keinen Platz finden, wenn die Skulptur Projekte am 1. Oktober enden. Denn für die globale Tournee durch Galerien und Museen ist Huyghs Welt nicht gemacht.
Skulptur Projekte Münster
Bis 1. Oktober 2017
Tel.: 0251 / 20318200