// Wer in Beethovens Hirn vordringen will, muss die historische Patina abkratzen, muss nach den Ursprüngen suchen. Wer seine Sonaten verstehen will, darf sie nicht nur am modernen Steinway spielen. Das Bonner Beet- hovenfest bietet in diesem Jahr einen Zyklus aller 32 Klaviersonaten, vorgetragen von verschiedenen Pianisten an historischen Instrumenten. Einer von ihnen ist der Niederländer Ronald Brautigam.
Irgendwann wurde die Prellleiste durch bewegliche Zungen ersetzt; dann kamen Filzbüschel in Mode, die die alten Lederstreifen er- setzten; und die Hammerköpfe wurden auf einmal zum Spieler hin ausgerichtet: Details der hohen Klavierbauschule, mit denen der Laie in der Regel nichts anzufangen weiß. Also nur eine musikhistorische Fußnote? Keineswegs. Was in den letzten Jahren des 18. und den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts im Klavierbau geschah, hat die Musikgeschichte revolutioniert und prägt sie bis heute. Allein zwischen 1800 und 1860 wurden in Deutschland mehr als 500 Klavierbauwerkstätten gegründet. Klar, dass sich dadurch Klang und Technik zwangsläufig geändert haben. Das Bild vom Piano als Freizeitvergnügen für höhere Töchter hat uns eine verzärtelte Romantik-Rezeption gern vor Augen geführt, doch auf jemanden wie Beethoven wirkte die Entwicklung des Klavierbaus prägend. Bestimmte Stil und Alltag – und seine Stellung bis heute.
Im Jahr 1795, mit 25 Jahren, betritt Beethoven als Sonaten-Komponist die Bühne, mit drei Werken, zusammengeschlossen unter der Opuszahl zwei. So wie er im ersten Takt der ersten Sonate mit einem c beginnt, wird er 27 Jahre später in seinem Opus 111 sein Sonaten-Œuvre abermals auf einem c beschließen. Dazwischen liegen nicht nur 32 anspruchsvolle Werke, sondern Welten. Aus dem Erbe Mozarts und Haydns formt er eine eigene Gattung. Bis 1805 schreibt Beethoven 23 Sonaten, in den siebzehn Jahren bis 1822 nur noch neun, dabei stets beeinflusst und abhängig von den Instrumenten seiner Zeit.
K.WEST: Inwieweit hat der Klavierbau Beethovens Kompositionen beeinflusst?
BRAUTIGAM: Das erste Klavier, das Beethoven für seine frühen Klaviersonaten zur Verfügung stand, besaß nur einen Umfang von fünf Oktaven. Dann bekam er eines mit fünfeinhalb Oktaven, es hatte also sechs zusätzliche Töne. Danach kam ein Sechs-Oktav-Klavier, schließlich ein Sechseinhalb-Oktav-Klavier. Das bedeutete, dass der Umfang seiner Werke stetig zunahm und damit seine Musik in den klanglichen Randzonen auch expressiver wurde. In den frühen Instrumenten kann man noch das Cembalo erkennen, doch aus den späteren hört man schon das romantische Klavier, das von Schumann und Brahms.
K.WEST: Wer hat da wen beeinflusst: Beethoven die Klavierbauer, weil er immer größere Instrumente wollte, oder die Klavierbauer den Komponisten?
BRAUTIGAM: Es ist ein bisschen wie die Geschichte vom Huhn und dem Ei. Man weiß nicht so genau, was zuerst war: Beethovens Musik oder die Entwicklung bei den Klavieren. Ich glaube, Beethoven hat schon Einfluss genommen auf die Klavierbauer seiner Zeit. Er stand beispielsweise in engem Kontakt mit Johann Streicher und dessen Frau Nannette, die wiederum eine Tochter des Klavierbauers Stein war. Also ein enges Geflecht und eine unglaublich spannende Zeit.
Brautigam hat inzwischen Beethovens 32 Klaviersonaten an historischen Flügeln aufgenommen (Label BIS). Ein atemberaubendes Projekt. Wegen der Flügel. Wegen Brautigam. Die Werke klingen in diesen Einspielungen so völlig anders, frisch, unverbraucht. Dieser Beethoven ist einerseits klar wie ein Fjord, andererseits emotional prall. Er lebt von einer umwerfenden Vitalität, einem Gespür für Zusammenhänge, für Struktur, für Logik. Wenn Brautigam ein Fortissimo heraus haut, klänge das auf einem heutigen Konzertflügel bloß laut und brutal, aber auf einem Walter-Flügel wirkt es eben stimmig. Klavierspiel nicht als Exekution, sondern als Dramaturgie. Auch in den leisen Passagen versteht es der Pianist, die Melodien ruhig atmen zu lassen und ihren manchmal scheuen, diskreten Charakter behutsam hervorzukehren.
K.WEST: Wonach haben Sie Ihre Instrumente ausgewählt?
BRAUTIGAM: Für die frühen Sonaten kam ein Walter-Flügel in Frage, denn das sind – nun, ich würde nicht sagen: aggressive, aber doch ziemlich lebendige Instrumente. Für die späten Sonaten habe ich eine Graf-Kopie gewählt. Ein Graf, das ist schon fast ein Schubert-Klavier. Man kann durch das Instrument viel mehr die Intimität in den Sonaten aufdecken. Da wird der Flügel zum engen Partner. Er ist nicht mehr nur ein Gerät, das bedient sein will.
K.WEST: Sie spielen Beethovens Klavierkonzerte auf Flügeln von heute, die Sonaten aber auf historischen Instrumenten.
BRAUTIGAM: Ich hatte früher immer die Idee, dass Beethoven nur wild und unbeherrscht, revolutionär und dramatisch sei. Aber es gibt auch diesen fast verwundbaren Beethoven. Das jedoch hört man viel zu selten, weil sich die Leute auf das Heroische, auf sein Pathos konzentrieren. Darüber verliert man die Intimität leicht aus den Augen, und die lässt sich auf den alten Flügeln wunderbar vermitteln.
Kein Beethoven-Interpret kann sich ums Brio drücken. Die Übersetzung »Feuer« trifft es nur zum Teil. Dahinter verbirgt sich die Kunst, den Impetus dieser Musik, ihr Vorwärtsdrängen und – im Gegensatz dazu – ihr Verweilen mit einer jeweils passenden Binnenspannung zu versehen. Die zu erzeugen, verlangt auf historischen Instrumenten nach anderen Kriterien als auf heutigen Klavieren. Der Anschlag ist ein anderer, dadurch bedingt die Tempi, der Pedalgebrauch ist komplett anders. Nur wer sich einmal auf zeitgemäßen Instrumenten versucht hat, wird auch auf dem modernen Flügel ein schlüssiges Beethoven-Bild zeichnen können.
K.WEST: Welche Folgen hat es für Sie als Interpret, wenn Beethoven ein Brio vorschreibt?
BRAUTIGAM: Das bedeutet: Risiken nehmen. Dass man einen kleinen Streifen zu weit geht. Wenn man ohne Brio spielt, klingt es schnell lustig. Beim Brio jedoch müssen einem alle Haare zu Berge stehen.
K.WEST: Wer ist für Sie überhaupt dieser Beethoven?
BRAUTIGAM: Das, was am Ende aus dem Instrument heraus kommt. Für mich gibt es eigentlich nur die Partitur mit den Noten – das ist für mich Beethoven. Nicht der Mann, der mit Eiern nach dem Ober geworfen hat und ein ziemlicher Brummbär war.
23. und 24. September 2009, Beethoven-Haus Bonn; www.beethovenfest.de