Immer häufiger rutschte einem in letzter Zeit aus Programmheften der »Musica Antiqua Köln« ein Einlagezettel vor die Füße: »Reinhard Goebel, der Dirigent des heutigen Abends, musste aus gesundheitlichen Gründen seinen Auftritt absagen.« Fans der Gruppe waren alarmiert. Für aufmerksame Konzertveranstalter aber war seit Monaten klar, dass sich hier eine Legende der deutschen Musikkultur im ausgehenden 20. Jahrhunderts in Raten verflüchtigte. Im Mai dieses Jahres hatte der Ensemblegründer Reinhard Goebel seinen Rückzug als Geiger verkündet, die Gruppe beschloss ihre Selbstauflösung bis zum Ende des Jahres. Doch so lange wollte Goebel die angestauten Differenzen mit den Musikern nicht schwelen lassen: Seit Mitte August ist die Trennung perfekt, das Ensemble wird seine letzten Konzerte ohne sein Markenzeichen absolvieren müssen. »Ich habe meine E-Mail-Adresse geändert, jetzt gibt es nichts mehr, was mich an Musica Antiqua erinnert «, übertreibt Goebel im Überschwang des Befreiungsschlags. »Ein saures Ende, aber ich kann das vertragen. Ich bin der Sonne so nahe gekommen, es hat so wunderbare Augenblicke gegeben mit Musica Antiqua, aber es ist jetzt auch mal Zeit für was Anderes in meinem Leben.« Ein Mann blickt nach vorn. Dabei war »Musica Antiqua« selbst einmal jenes Andere, mit dem Goebel vor 33 Jahren gegen die Frackästhetik und Karajanismen des Musikbetriebs in Kampfstellung ging. Die mächtigen Gegner des furchtlosen Häufleins waren das abgedroschene Repertoire der Abonnement- Konzerte und die Barockpflege der deutschen Bachvereine. »Historische Aufführungspraxis auf wissenschaftlicher Grundlage « prangte stolz auf dem Banner der Gruppe, in den Arsenalen standen kritische Notenausgaben, historische Instrumente und theoretische Traktate bereit für den Erstschlag.
Vor allem die Einspielung von Bachs »Brandenburgischen Konzerten« provozierte um die Mitte der achtziger Jahre wüste Beschimpfungen der Altvorderen – heute gehört sie zu den Klassikern. Nicht die so genannten Originalinstrumente und oft rasanten Tempi, sondern die stets glühende, immer sprachnahe, organische Art der Spielweise machten »Musica Antiqua Köln« zum Vorbild einer jungen Musikergeneration. Der erste Schlag traf das Ensemble, als Anfang der neunziger Jahre eine Lähmung der linken Hand den schnellsten und experimentierfreudigsten Barockgeiger Deutschlands auf spieltechnisches Schülerniveau herunterschraubte. Reinhard Goebel ackerte mit verzweifeltem Einsatz, um seine frühere Qualität zu erreichen, setzte schließlich jüngere Musiker an die erste Geige bei »Musica Antiqua« – mit wechselndem Erfolg. Der vielleicht talentierteste Konzertmeister, Stephan Schardt, erlitt im vergangenen Jahr bei einem Motorradunfall lebensgefährliche Verletzungen – ein weiterer Neuanfang stand ins Haus. Doch diesmal fehlten dem Chef Kraft und Lust, das Flaggschiff der historischen Aufführungspraxis wieder flott zu machen. Und er setzt an zu einer Bilanz-Litanei: »Ich bin jetzt 53 und sage: Komm, das Turbulente, das reicht jetzt mal, das hast du drei Jahrzehnte gemacht. Der Konzert-Jetset nimmt doch heute immer schrecklichere Formen an. Wir sind für zwei Konzerte nach Korea geflogen, das eine war um 13 Uhr, das andere um 17 Uhr – das möchte ich nicht mehr. Ich halte das zwar aus, ich bin nach wie vor vital, aber ich will es einfach nicht. Ich habe 30 Jahre in meinem Leben gearbeitet, bin nicht in Urlaub gefahren, sondern habe zu Hause gesessen und Noten abgeschrieben, 50 Bände. Diese vertiefte Auseinandersetzung mit dem Material fehlt mir, es wird auf diesen Reisen viel zu viel Zeit verquatscht. Und ich möchte nicht immer nur hartleibige Triosonaten von Pachelbel und Dario Castello spielen, sondern was Neues machen.«
So probt Goebel seit Längerem den Absprung vom hektisch kreisenden Karussell der Barockmode. Für ihn wird die »Alte-Musik- Bewegung« längst nicht mehr vom gemeinsamen Aufbruch oder gar vom Protest gegen das klassisch-romantische Establishment in Schwung gehalten, sondern von der Neuigkeitssucht des Medien- und Konzertbetriebs. Nach Zeiten der Repertoire-Expeditionen ist heute auch in der Musik des 17. und 18. Jahrhunderts der Wiedererkennungseffekt gefragt: je mehr Händel und Vivaldi, desto besser. »Der Mainstream der Alten Musik ist doch genauso abgeleiert wie das Kammerorchester der siebziger Jahre, gegen das wir immer gekämpft haben. Nur dass nicht mehr breit und bräsig gespielt wird, sondern schnell und oberflächlich. Das ist alles frei von echtem Pathos, von Empathie und einem Mitleiden, das den Hörer an den Schultern packt und sagt: Hör mir zu! Was heute zählt, sind belanglose Chaconnen, 6,50 Meter lang, die Bahn für 19,80 Euro.«
Journalisten lieben es, wenn sich einer so wortgewaltig und provokant aus dem Fenster lehnt. Doch mittlerweile scheint Goebel seine eigene Suada gegen die Repertoirepolitik der Labels und die neueste italienische »Boy-Group« im Barockgeschäft müde zu sein. Vom Kölner Kiez ist er vor einigen Jahren in seine Heimatstadt Siegen gezogen, in einen stilechten Bungalow der späten sechziger Jahre. Zwischen Nussbaumschrankwand und Gartenschaufenstern lagert hier seine kolossale Musikbibliothek; Stiche von Dresden und Büsten von Goethe, Bach oder dem Ritter Gluck setzen Wegmarken eines tief empfundenen, aber nie musealen geistigen Anspruchs. In diesem Elfenbeinturm in der pädagogischen Provinz geht Goebel seiner Lieblingsbeschäftigung nach. »Eine meiner wichtigsten Fähigkeiten ist die, voraus zu arbeiten aus reinem Interesse. Sie können sich gar nicht vorstellen, dass es so was noch gibt, denn dafür braucht man Zeit. Ich kann Sie gerne an meinen Notenschrank führen und Ihnen Opern von Wranitzky oder Sinfonien von Sterkel zeigen – Dinge, die mich brennend interessieren und die im Konzertbetrieb sicher genau so mit offenen Armen empfangen werden wie das, was ich im Barockbereich gemacht habe. Ich arbeite voraus, ich bin sehr fleißig.« Wie hungrig der Musikbetrieb nach solchen Repertoire-Raritäten aus dem späten 18. Jahrhundert schnappen wird, wird sich zeigen. Sicher hat die Verschiebung musikalischer Vorlieben mit Goebels künftigem Hauptinteresse zu tun: dem Dirigieren. In der kommenden Saison wird er am Nationaltheater Mannheim Niccolò Piccinis Oper »Catone in Utica« einstudieren, auf den Konzertprogrammen stehen Werke der Bach-Söhne und der »Mannheimer Schule« – Musik aus dem Grenzbereich zwischen dem Sonnenuntergang des Barockzeitalters und der Orchesterkultur des 19. Jahrhunderts. Gespielt werden diese Werke von modernen Orchestern. Darauf werde er sich spezialisieren: »Ich lehne Anfragen für Barockorchester grundsätzlich ab. Ich möchte nicht noch einmal das Repertoire wiederholen, das ich mit Musica Antiqua auf die Platte gebannt habe und wozu ich heute noch stehe. Deshalb gibt es für mich nur das moderne Orchester und nicht das Nachholen oder Nachschöpfen des Musica-Antiqua- Klanges mit Barockorchestern.« Um diese Abkehr vom vermeintlichen »Originalklang« zu dokumentieren, will Goebel den Großteil seiner kostbaren Instrumente verkaufen. Ein radikaler Abschied, wie sie einem Radikalen der Kunst wohl ansteht.
Verständlich, dass er die letzten Projekte für »Musica Antiqua« nur noch halbherzig vertritt. Der durch Saison-Absagen ohnehin strapazierten RuhrTriennale hat er die musikalische Leitung von Reinhard Keisers Oratorium »Der siegende David« (Hamburg 1716) und die Produktion von »Rubens und das nicht-euklidische Weib« vor die Füße geworfen. Dabei war ihm zumal der Rubens-Abend ein Herzensanliegen. »Ich besitze eine große Stoffsammlung zum Thema Rubens und die Musik. Zwanzig Jahre habe ich daran gearbeitet, weil Rubens ein paar Kilometer entfernt von hier geboren wurde. Ich habe mir seinen Lebenslauf immer wieder angesehen und gefragt: Wem wurden die Werke gewidmet, wo trafen sich welche Künstler? Daraufhin habe ich dieses Programm gemacht – mit Werken von Marco Uccellini, Claudio Monteverdi oder Biagio Marini, der wie Rubens auch Diplomat war. Die Wege dieser Künstler waren wie Zöpfe, vielfach verflochten. Nur hat er sich nie dazu geäußert und nie einen Komponisten gemalt. Er hat über einen Monteverdi nicht gesagt: Das ist ein Künstler, der mir gleich kommt und den ich meines Pinsels würdigen sollte. Künstler waren nicht seine Zielgruppe. Er hat eben nur reiche Leute gemalt und Ovidsche Szenen.« Péter Esterházy hat im Auf§trag Jürgen Flimms einen Text verfasst, der Rubens philosophierend und räsonnierend aus dem Grab steigen lässt (s. K.West 7+8/2006). Für Goebel hat das alles nichts mehr mit seiner Anfangsidee, seinem Herzensprojekt zu tun. Er habe den Text nicht gelesen, »weil sich Esterházy auch in keiner Weise mit mir über meine Beweggründe oder die Anordnung der Musik unterhalten hat«. Da schmollt einer dann doch ein bisschen über die Hoffärtigkeit der Welt – aber nur ein bisschen. Denn der Neuanfang interessiert den Mann aus der Rubens-Stadt Siegen mehr als die tempi passati. »Ich sitze hier ohne Groll und freue mich meiner Freiheit. Kein Schmoll, kein Plätzchen für Leidensstories.« //
»Rubens und das nicht-euklidische Weib«, RuhrTriennale, Kraftzentrale/Duisburg; Premiere: 2. Sept. 2006, Auff.: 3., 5., 7. und 8., 11. und 12. Sept. 2006