TEXT: ULRICH DEUTER
In Michael Köhlmeiers Roman »Madalyn« erwähnt der Schriftsteller Sebastian Lukasser, eine literarische Spiegelfigur Köhlmeiers selbst, er schreibe gerade an einem Buch über einen jungen Mörder, und die größte Schwierigkeit dabei sei, »wer diese Geschichte erzählt. Der Mörder selbst oder ein allwissender Erzähler oder ich.« Jetzt, gut zwei Jahre später, ist dieser Roman erschienen, er heißt »Die Abenteuer des Joel Spazierer« und »der Mörder selbst« erzählt: András Fülöp, der am 11. Januar 1949 in Budapest auf die Welt kommt. Die liegt in Trümmern: materiellen, geistigen, moralischen, wie nur am Ende des Dreißigjährigen Krieges schon einmal. Nichts gilt und hält mehr; und so ist András ein paar Jahre später bereits zweimal nach Wien geflüchtet und heißt Andres Philip. Mit neun verdient er Geld damit, Männer zu befriedigen und hernach zu erpressen, Ekel und Angst sind ihm fremd. Noch ein paar Jahre später, er ist noch keine achtzehn, erschießt er die Mutter seines Freundes, weil ihn auf einmal die Lust überkommen hat, deren Tresor auszuräumen, einfach weil er weiß, wie das gelingen könnte. Acht Haftjahre später lautet seine Identität: Joel Spazierer.
Aber es wird nicht die letzte sein. Denn András-Anders-Joel ist eine außermoralische Persönlichkeit: hochintelligent, von betörendem Äußeren, dem Mann wie Frau erliegen, ein Manipulierer, eine Projektionsfläche, auf der die andern sehen, was sie sehen wollen, und die selbst leer ist; ein verlässlicher Verräter, dem jedermann vertraut. Der mal viel Geld hat und mal nichts mehr zu essen, der noch einige Menschen ermordet und viele betrügt: ganz beiläufig und meist ohne dafür büßen zu müssen. Bis er, als 60-Jähriger, Sebastian Lukasser wiederbegegnet, einem Schulfreund. Und die Geschichte erzählt wird.
Beginnend mit der Urerfahrung: Fünf Tage und vier Nächte ist der vierjährige András allein, nachdem die Großeltern, bei denen er lebt, von der ungarischen Staatssicherheit abgeholt wurden. In der Verlassenheit zieht sich die ganze Welt auf einen Punkt zusammen, ihn selbst. Den Verlust von Zeit und jeglicher Beziehung aber wandelt der Knabe in eine Art Selbstermächtigung um: über Menschen, Dinge und Geschichten. Wenn er ab jetzt ich sagt, leidet ein anderer.
Und so wird dieser große Roman zum Paradigma über die Haltlosigkeit in der Welt, über Wahrheit und Lüge und damit über das Erzählen selbst, das ja ebenfalls eine Art des Betrügens und Verführens ist. Zumal auch der Leser, nicht anders als Joels Opfer im Roman, Joels Erzählercharme unrettbar erliegt. Dieser Mensch ist schon als Kind kalt, doch wir folgen seinem Lebensweg mit Wärme – einem Weg, der in zahlreichen Vor- und Rückspringen durch die Wälder Deutschlands führt (gemeinsam mit einem desertierten GI und verziert mit wunderbaren Naturbeschreibungen); der seinen Helden Hausmeister und Drogendealer, zigmal die enttäuschte Hoffnung seiner Freunde und einmal den Retter eines Menschen sein lässt. Liechtenstein, Mexiko, Russland – sobald Joel einen Vorteil erkennt, wechselt der Schauplatz; wie zwangsläufig schmiegen sich Biografie und Geschichte aneinander. Das kulminiert, wenn Joel als angeblicher Enkel Ernst Thälmanns in die DDR übersiedelt, eine Professur für wissenschaftlichen Atheismus erhält und, völlig glaubhaft, zu Honeckers zum Kaffeeklatsch geladen ist.
Joel Spazierer ist Simplicissimus, der auch nicht Gut und Böse zu unterscheiden wusste; aber auch Faust, der nach dem »Verweile« sucht. Man liest das Buch atemlos: nicht nur wegen seines ungeheuren Plots, sondern vor allem wegen seines suggestiven Erzähltons und seiner großen Lust an der Beschreibung. Wegen der Weisheiten, die es oft und ganz uneitel austeilen kann. Wegen der Wahrheit, die es über unsere ganze Epoche verrät.
Michael Köhlmeier: »Die Abenteuer des Joel Spazierer«; Hanser Verlag, München 2013, 655 Seiten, 24,90 Euro
Lesungen am 4. März 2013 im Heine Haus, Düsseldorf; am 12. März in der Kulturkirche Köln im Rahmen der Lit.Cologne; am 17. April im Eulenspiegel Buchladen, Bielefeld; am 18. April in der Hochschul- und Kreisbibliothek Bonn-Rhein-Sieg, Sankt Augustin