//__Ab einem bestimmten Alter können Geburtstagsfeiern etwas Deprimierendes, ja Niederschmetterndes haben. Nur die unverbesserlichen Optimisten wissen schlüssig zu erklären, warum zehn mehr vollbrachte oder – je nach Sicht der Dinge – weniger verblie-bene Jahre Anlass für Schaumwein und Festtagsreden sein sollen. Zumal letztere ja immer irgendwie ein bisschen wie Nachrufe zu Lebzeiten klingen. Als das in Essen erscheinende »Schreibheft, Zeitschrift für Literatur« 1997 seinen 20. Geburtstag beging, wurde nach Kräften gelobt. Zugleich aber ließen sich zwischen den Zeilen der Gratulanten auch leise Zweifel daran vernehmen, ob es mit dem Jubilar nicht bald würde zu Ende gehen können. Denn obwohl die Lebenszeit von Zeitschriften nicht per se endlich ist, können auch sie dahingerafft werden: von Moden. Auf Moden lässt sich natürlich reagieren; etwa indem man den Zeitenwechsel selbst zum Thema macht, oder indem man sich ihm anpasst. Was dann meist heißt: Kurze Texte, mehr Bilder, noch kürzere Texte, buntere Bilder. Das »Schreibheft« hat weder das eine, noch das andere getan. In diesen Tagen kommt die Nummer 68 in die verbliebenen gut sortierten Buchhandlungen. Es ist mal wieder eine Jubiläumsnummer. Das lässt nur den einen Schluss zu: Es scheint nicht das Schlechteste zu sein, wenn andere denken, man sei aus der Zeit gefallen.
Aber was heißt schon: aus der Zeit fallen? Wenn sich »Schreibheft«-Leser auf etwas verlassen konnten und können, dann doch darauf, dass man ihnen keineswegs mit ästhetisch Abgestandenem und Angestaubtem die Zeit stiehlt. Eine solche Haltung aber einfach nur Avantgarde zu nennen, würde zu kurz greifen. »Ich weiß nicht, wie es nach Beckett und Malewitsch mit diesem naiven AvantgardeBegriff, dem zufolge es immer nur voran gehen müsse, hätte weitergehen sollen. Aber es ist weitergegangen und es muss weitergehen«, sagt Herausgeber Norbert Wehr heute. Wehr ist 1978 zum »Schreibheft« gekommen. Kurz nachdem Ulrich Hohmann und Wilfried Bienek das Heft aus einer Schreibwerkstatt der Essener Volkshochschule heraus gegründet hatten. Seitdem macht Wehr seine Arbeit mit einer ebenso einfachen wie voraussetzungsreichen Überzeugung: »Jeder, der seriös schreibt oder sich als Lesender mit Literatur beschäftigt, sollte die Tradition kennen, sollte wissen, wo er weiterschreibt, wo er weiterliest.« Angesichts der Vielfalt von Stimmen, die im »Schreibheft« regelmäßig zu Wort kommen, benennt Wehr den kleinsten gemeinsamen Nenner des Veröffentlichten dann wie folgt: »Sie werden keine naiven Texte finden, die nicht wissen, wo sie herkommen.«
Den Heerscharen des Literaturbetriebs ist das »Schreibheft« deshalb auch nicht einfach nur ein paar Schritte vorausgegangen; es nimmt für gewöhnlich ganz andere, abgelegene Wege. Insofern ist die Jubiläumsnummer mit dem Dossier zu »Comics und Literatur«, dem Abdruck von Herman Melville Gedichtband »John Marr und andere Matrosen« oder etwa den Abschieden von Oskar Pastior exemplarisch. Auch in der Zurückhaltung, die sich Norbert Wehr selbst auferlegt, wenn es darum geht, auf das besondere Datum hinzuweisen. Editorials stehen im »Schreibheft« selten, eben nur dann, wenn es auch etwas zu sagen gibt. Das aktuelle Jubiläum ist dem Herausgeber gerade mal bescheidene acht Zeilen wert, in denen er seine Leser wissen lässt, dass der 30. Geburtstag Anlass sein soll, »beispielhaft noch einmal den Kosmos der Zeitschrift zu durchschreiten«. Vielleicht noch wichtiger aber ist die Versicherung, dass die Autoren, Schwerpunkte und Fragestellungen, die für das Profil und Programm des »Schreibhefts« von besonderer Bedeutung waren, es auch in Zukunft bleiben werden.
Obwohl Wehr also als Editor selten selbst im Heft in Erscheinung tritt, ist sein Verständnis von »eingreifender Herausgeberschaft« ein denkbar umfassendes. Initiator, Scout, Sammler, Koordinator – vor allem aber ist Wehr ein literarischer Komponist, der nicht nur die einzelnen Dossiers auf komplexe Weise so arrangiert, dass sich die Texte wechselseitig kommentieren und ergänzen, sondern darüber hinaus setzt er die auf den ersten Blick so disparat wirkenden Schwerpunkte auch miteinander in Beziehung. Im Idealfall, sagt Wehr, lasse sich das »Schreibheft« dann von vorne bis hinten wie ein einziger Text lesen. »Echoraum« hat er einmal den Effekt genannt, der dann entsteht.
Der Nachhall, der sich beim Lesen des »Schreibhefts« einstellen kann, durchzieht nicht allein einzelne Hefte, er ist auch über Jahre und Jahrzehnte der »Schreibheft«Produktion vernehmbar. Bemerkenswerter nämlich als die Tatsache, dass Wehr Autoren wie William Gaddis, William H. Gass oder Orhan Pamuk Dossiers gewidmet hat, noch ehe diese einer breiteren deutschsprachigen Öffentlichkeit bekannt waren, bemerkenswerter also als der Pioniergeist, den das »Schreibheft« antreibt, ist die Beharrlichkeit, mit der Wehr und sein Redakteur Hermann Wallmann immer wieder auf »ihre« »Schreibheft«-Autoren zurückkommen. So lässt sich etwa die Beschäftigung mit dem im aktuellen Heft vertretenen Herman Melville bis ins Jahr 1991 zurückverfolgen, als man diesem anlässlich seines 100. Todestags mit der »Vom Leichentuch des Meeres« benannten Nummer 37 erstmals ein monothematisches Heft widmete. Darin finden sich auch drei Neuüber-tragungen zentraler Kapitel des »Moby Dick« von Übersetzern, die sich durch die Arbeit mit avancierten Texten des 20. Jahrhunderts bekannt gemacht hatten.
Hohe Wellen sollte dann das zehn Jahre später erschienene, wiederum monothematische sogenannte »weiße Schreibheft« schlagen, in dem die Redaktion nochmals von Rathjens übersetzte Kapitel aus »Moby Dick« abdruckte, parallel zum Erscheinen der auf Rathjens Arbeit basierenden Fassung von Matthias Jendis im Hanser Verlag. Eben dort hätte das »Schreibheft«-Team eine Werkausgabe Melvilles herausgeben sollen. Doch kam es über die Übersetzung Rathjens, der für sich reklamiert, so originalgetreu wir nur möglich gearbeitet zu haben, zum Zerwürfnis. Mit dem Ergebnis, dass Rathjens seinen Namen für die revidierte Fassung nicht hergeben wollte.
Derartige, vom »Schreibheft« angestoßene öffentlichkeitswirksame Auseinandersetzungen gab und gibt es wenig. Tagesaktualität, so wie sie der heiß gelaufene Literaturbetrieb versteht und produziert, findet kaum Ein-gang in »Schreibhefte«. Das ist wohl auch ein Grund, warum sich Wehr und seine Mitarbeiter bislang nicht die Finger verbrannt haben, wenn es um die Beurteilung literarischer Qualität geht. So schwer das »Schreibheft« thematisch auch auszurechnen ist, kann sich der Leser in anderer Hinsicht auf seine Lieblingsliteraturzeitschrift sehr wohl verlassen: Was darin heute zu lesen ist, hat in der Regel auch morgen noch Bestand.
Gleichwohl birgt das Bartlebysche »I would prefer not to«, mit dem die Schreiber des »Schreibhefts« den Launen des veröffentlichten literarischen Bewusstseins begegnen, die Gefahr, aus dessen Blickwinkel vollends zu verschwinden. »Die Gattung Zeitschrift hat es insgesamt schwer«, sagt Wehr. Das aber liege nicht daran, dass das Interesse der Leser abgenommen habe, sondern an der veränderten, heißt zunehmend desinteressierteren öffentlichen Wahrnehmung, in der Zeitschriften eine immer kleinere Rolle spielten. »Heute muss man laut Skandal schreien, dann stehen alle sofort auf der Matte.« Laut geschrieen aber hat das »Schreibheft« nie. Vielleicht auch deshalb nicht, weil die mei-sten seiner Leser gerade für derartigen Lärm zu empfindliche Ohren haben.
Auch in anderer Hinsicht hat das »Schreibheft« sein Profil nie angepasst. Während die literaturwissenschaftlichen Fakultäten Anfang der 90er Jahre darangingen, ihr Heil und ihre Legitimation unter dem weit ausspannenden Dach der Kulturwissenschaft zu suchen, hat sich das »Schreibheft« auf seinen literarischen Kernbereich, also Les- und Interpretierbares im engeren Sinne, beschränkt. Ende der 90er Jahre hat Wehr dennoch über eine inhaltliche Erweiterung des Profils nachgedacht. »Aber selbst auf die Gefahr hin, als hinterwäldlerisch zu gelten, habe ich mich dafür entschieden, ausschließlich auf Literatur zu setzen. Das ist nicht Ausdruck von Desinteresse für andere kulturelle Felder, eher eine bewusste Entscheidung, nicht auf einem Feld mitzumischen, wo es genug andere gibt, die sehr viel mehr davon verstehen und die es folglich besser können.«
Ein solches Festhalten am eigenen, bewährten Qualitätsmaßstab ist kein kleines Risiko. Zumal dann nicht, wenn man bedenkt, dass hinter dem »Schreibheft« kein großer Verlag steht, der für das unternehmerische Risiko einzuspringen bereit wäre. So ist das Verfertigen des »Schreibhefts« immer auch eine Fahrt aufs offene Meer hinaus. Ein Walfang in Melvillescher Manier. Doch Zierfischzüchter haben wir eh schon genug.
www.schreibheft.de; Bestellung: 0201/77 81 11