TEXT: ANKE DEMIRSOY
Unschärfe umgibt den lateinischen Begriff »alter ego«. Das zweite oder andere Ich verwirrt durch die vielfältige Gestalt, in der es uns begegnen kann: als Pseudonym, Künstlername, Avatar, Doppelgänger oder Gegenspieler. Wo die griechisch-römische Antike noch von einem »wahren Freund« sprach, erblickt die Psychologie nicht ausgelebte Schattenseiten einer Persönlichkeit – Dr. Jekyll und Mr. Hyde.
Auf der Suche nach einer thematischen Klammer für die 36. Tage Alter Musik in Herne dehnt Richard Lorber die Deutungsmöglichkeiten noch weiter aus. Der WDR-Redakteur und künstlerische Leiter des Festivals erklärte das »Alter ego« zum Motto des Programms, das zehn reguläre Konzerte und ein Werkstattkonzert bietet. Darunter finden sich klangvolle Debüts, dramaturgisch interessante Gegenüberstellungen und manche Preziose des Repertoires. Eine reizvolle Mischung, in der sich freilich nicht alles geschmeidig ins übergeordnete Konzept fügt. Wenn es um die beinahe unbekannten Streichquartette des Belcanto-Komponisten Gaetano Donizetti geht oder um Joseph Haydn als geschäftstüchtigen Massenproduzenten von schottischen Volksliedbearbeitungen, wird das geistige Band äußerst strapaziert.
Als Verkaufsschlager könnte sich das Debüt des vielfach ausgezeichneten Vokal- und Instrumentalensembles Les Talens Lyriques erweisen, das 1994 den Soundtrack zu dem Film über »Farinelli« einspielte. Unter Leitung ihres Gründers Christophe Rousset wird die Gruppe die Mezzosopranistin Ann Hallenberg begleiten, die dem legendären Kastraten in die Kehle komponierte Arien singen wird. Kronzeuge für die Vermutung, dass der Künstler von Natur eine multiple Persönlichkeit sei, ist Robert Schumann, dessen Davidsbündlertänze der Düsseldorfer Pianist Tobias Koch auf einem Érard-Pianoforte der Sonate op. 11 gegenüber stellt. Unter dem Titel ›Original und Fälschnung‹ könnte ein Konzert des italienischen Ensembles I Turchini (Kreuzkirche) firmieren. Bei ihrem Debüt rücken die Musiker unter Antonio Florio die inflationäre Fülle an Werken in den Blickpunkt, die dem mit nur 26 Jahren verstorbenen Giovanni Battista Pergolesi zugeschrieben wurden.
La Stagione Frankfurt und Michael Schneider befassen sich bei ihrem erneuten Auftritt in Herne mit dem urheberischen Verwirrspiel der im friderizianischen Berlin tonangebenden Brüder Johann Gottlieb und Carl Heinrich Graun, deren Werke häufig mit der unpräzisen Autorenangabe »di Graun« überliefert sind. Von der fruchtbaren Zusammenarbeit zwischen dem norddeutschen Komponisten Johann Adolf Hasse und dem römischen Dichter Pietro Metastasio kündet die Hochzeitsoper »Romolo ed Ersilia«, mit der das französische Ensemble Café Zimmermann unter Attilio Cremonesi das Festival beschließt. Auch das Deutschland-Debüt des italienischen Ensembles Lo Specchio di Narciso und das erste Gastspiel des Kölner Kammerchors unter Peter Neumann lassen hoffen, dass die etwas umnebelte thematische »Ich«-Setzung sich künstlerisch klärt.
10. bis 13. November 2011; www.tage-alter-musik.de