TEXT: ULRICH DEUTER
Vollkommen weiß ragt sie empor bis in Bühnenhimmelhöhe, die Bergwand. Ein steiler, leuchtender Fels, der den Bühnenkasten des Wuppertaler Schauspielhauses sprengen, heraus ins Publikum stürzen will. Vielleicht auch kein Berg, vielmehr ein Gletscher, ein Eisgebirge, von dem Teile heruntergekalbt sind und als kleine Insel vorn im Wasser schwimmen. Oder beides zugleich, Eis und Berg, und auf jeden Fall ein neuer Beweis für die suggestive Bildkraft des Bausch-Szenografen Peter Pabst (siehe auch das Porträt auf S. 42).
Von Anfang bis Ende des neuen Pina-Bausch-Tanzabends steht diese weiße Wand unbeweglich und den Blick fangend in der Bühnenmitte – doch hier ruft kein Berg. So wenig wie hier eine Reise Bericht geben will. Das Wuppertaler Tanztheater, das seit Mitte der 80er Jahre seine jährlichen Produktionen während eines Aufenthaltes in und in Kooperation mit fernen Ländern erarbeitet, hat diesmal Korea besucht. Doch noch weniger als sonst hat es irgendetwas von dort mit heim und ins neue Stück eingebracht; nur die Musik gibt sich dann und wann leicht asiatisch/pentatonisch. So erscheint bei diesem (wie immer zunächst namenlosen und als noch nicht fertig apostrophierten) Tanzabend nichts fremd; auf keine Weise. Und das heißt: nichts groß. Der Berg, wie gesagt, ruft nicht, er ruht bald nur, wird von den Tänzern kaum berührt und dient später als Leinwand für hübsche Projektionen von Blumenwiesen oder einfach Farbimpressionen; dann als Kletterwand für vier Bergsteiger eines Elberfelder Vereins. Das macht seine ursprüngliche Gewalt bald klein. Und der Tanz – nun, der Tanz der 17 Akteure ist so, wie er aus Pina Bauschs bald 40 Tanzabenden vertraut ist. Choreografische Situationen, die auf früher quälende, in letzter Zeit beglückende und auch nach diesen vielen Malen nie ganz durchschaubare Weise tief berühren – so war es alle Jahre, so könnte es wieder sein. Doch irgendetwas fehlt. Sei es, dass die Zahl der wirklich bewegenden Bilder zu gering, die der schon so oft gesehenen zu groß ist. Sei es, dass die Szenen, vor allem die nicht seltenen Soli, zu routiniert oder zu kraftlos getanzt werden. Auch fehlen die großen alten Protagonisten des Ensembles, Helena Pikon, Julie Shanahan, Dominique Mercy … Vielleicht auch dies ist der Grund dafür, dass die Tänzerinnen und Tänzer dieses Abends wie alleingelassen wirken.
Oder wie fremd in ihrem eigenen Stück. Schon die erste Szene ist wie ein Pfeifen im Wald: Da wandern zwei Männer über die Bühne, der eine flötet ein Liedchen, der andere beugt sich über ihn und nimmt ihm den Ton von den Lippen. Bald darauf werfen sich zwei einen schweren Holzstamm zu, gehen damit zu Boden – elegant –, dann schlägt der eine mit der Axt ins Holz, während ein anderer mit froher Emphase Tücher aus einer Kleenex-Box in die Luft fliegen lässt. Schwer, leicht – das bleibt im Folgenden unverbunden. Die winzige Ditta Miranda Jasjfi darf sich in einem Solo kindhaft dehnen, ein bisschen sehnen, bisschen barmen; Ruth Amarante gibt sich böse, zündet Papierblumen an und zeigt die im Löschwasser schwarz gewordenen Reste. Männer und Frauen jagen einander, springen über einander weg, bewerfen einander mit Stühlen; tragen einander durchs Leben, liegen paarweise gegeneinander gelehnt und geborgen wie Robben am Strand. Frauen gleiten sanft umher, gewandet wie Madonnen; Männer wuchten mit Machismo-Selbstgefälligkeit ihre Körper herum. Rainer Behr zeigt Geschwindigkeit, Franko Schmidt sein Marzipanlächeln, Regina Advento ihren dunklen Rücken, Na Young Kim undurchdringliche Trauermiene. Die ganze Bandbreite kommt vor, doch ohne dass die Teile einander ergänzten. Da gibt es die komischen Situationen: Sie kann es nicht abwarten, mit ihm zusammenzukommen, er aber zieht sich umständlich aus, faltet die Kleider zusammen. Und die poetischen: Die kleine Jasjfi steigt, von zwei Männern gehalten, ein kleines Zweiglein hoch, die winzigen Füße tapsen mal hier, mal da in die zerbrechlichen Gabelungen; oben schaut sie triumphierend über die Welt. Wild ist es oft, von Steel-Drums-Rhythmen angetrieben, das Ensemble jagt über die Bühne, hier und da verharrt ein Körper in einem selbstversunkenen Stückchen Ausdruckstanz. Das könnte immer so weiter gehen. Und hat nichts zu tun mit Korea und mit dem Berg im Hintergrund.