Eigentlich stellt sich die Frage nach dem Karriere-Ende nur bei Leistungssportlern. Wer jahre- und jahrzehntelang über die Tartanbahnen dieser Welt gehetzt ist oder auf dem Fußballplatz jeden Grashalm mehrmals umgepflügt hat, der muss irgendwann auf die körpereigenen Signale hören. Aber Jazz-Musiker? Wenn man halbwegs gesund und drogenfrei durch die Jahre gekommen ist, lassen sich altersbedingte Zipperlein locker überspielen. Oder man hat eine genetische Disposition, die einfach alles entschuldigt. Peter Brötzmann scheint so ein Glückspilz und medizinisches Wunder zu sein. Auch nach vierzig Jahren sieht er auf der Bühne noch so aus, als ob er sich und sein Saxophon ständig mit Samthandschuhen gestreichelt und nicht kompromisslos exzessiv auf die Probe gestellt hätte. Mit zusammengekniffenen Augen sorgt er unbeirrt für subversive Jazz-Tiraden, schleudert nach wie vor sein Instrument nach vorne und in die Höhe, um mit infernalischem Getöse Motiv-Splitter und Rhythmus-Fragmente wie gefährliche Wurfgeschosse durch den Raum fliegen zu lassen.
Free-Jazz – bei Brötzmann ist das nicht einfach ein psycho-musikalischer Kraftakt. Für ihn ist Free-Jazz ein Knochenjob, an dem ihn nur zwei Fragen zu interessieren scheinen: Wo sind die Grenzen, wann falle ich um? Seit Mitte der 1960er Jahre betreibt er das Handwerk des »Brötzens«, des extremen Powerplays, der improvisierten Hetzjagden. Aber umgefallen ist er bislang noch nicht. Und die Grenzen des Möglichen und Spielbaren auf der für ihn nach oben offenen Ausdrucks-Skala hat er noch längst nicht erreicht. Im Gegenteil. Allein in einem gerade veröffentlichten Live-Mitschnitt von 2005 aus einem Danziger Jazz-Club ist Brötzmann in einem deutsch-skandinavisch-polnischen Quartett der unüberhörbare Dreh- und Angelpunkt, der einmal mehr harmonisch-metrische Schemata und rhythmische Regularien auf Kollisionskurs bringt. Hinzu kommt eine blueshafte Expressivität und Spiritualität, die er von seinem großen Vorbild Albert Ayler gelernt hat.
Am 6. März wird der gebürtige Remscheider und bekennende Wuppertaler nun 65 Jahre alt. Und wieder – wie schon 1991 anlässlich seines 50. und auch zehn Jahr später zum 60. Geburtstag – ist die Frage, wie es angesichts des wilden Lebensstils mit der Gesundheit stehe, geradezu Pflicht. Die Antwort fällt unspektakulär aus: »Vor sieben Jahren habe ich mit dem Saufen aufgehört. Ansonsten geht es so weiter, wie es geht.« Punkt. Keine guten Vorsätze, keine leeren Androhungen, vielleicht irgendwann doch etwas kürzer treten zu wollen. Denn »Jazz ist ein lebenslanger, anstrengender und zugleich erfrischender Prozess.« Und deshalb wird Brötzmann auch an diesem Ehrentag, so wie fast immer in den letzten Jahrzehnten, im Ausland sein. Dieses Mal in Tschechien. Fünf Tage später will er dann aber beim zweitägigen »Nozart«-Festival für zeitgenössischen Jazz das Gebläse in Köln so anschmeißen, wie man es von ihm erwarten darf. Rücksichtslos, emphatisch. Mit fiebrigen Glissandi und glühendheißen Ton-clustern. Atemberaubend virtuos. Und weil in Brötzmanns Lungen und Brust nicht nur das Herz eines Free-Jazzers schlägt, hat er mit Schlagzeuger Michael Wertmüller und Bassist Marino Pliakas zwei rock-gestählte Musiker an seiner Seite, mit denen er seit zweieinhalb Jahren ein Trio bildet. »Mit Micha Wertmüller habe ich schon einiges zusammen gemacht, in Projekten mit Werner Lüdi und William Parker etwa. So verschlafen er aussieht, kann er doch eine ungemeine Kraft und Intensität freisetzen.« Er lebe von den »Trommlern«, fügt Brötzmann hinzu, der das Zusammenspiel mit Micha Wertmüller als konsequente Fortsetzung seiner Arbeit mit Musikern wie Han Bennink und Louis Moholo sieht. »Marino Pliakas bietet hingegen mit seiner grundsoliden Basis voller feiner, musikalischer Fähigkeiten das intelligente Bindeglied zwischen dem alten Opa und dem relativ jungen Trommler.«
Brötzmann-Auftritte in der Heimat sind eher eine Seltenheit (das Trio wurde vom neuen Moers-Festival Leiter Reiner Michalke immerhin für die diesjährige Ausgabe gebucht). Was maßgeblich an dem ungeheuren Renommee liegt, dass er besonders in den USA auch unter den schwarzen Jazz-Musikern genießt. Nach den europäischen Jazz- Erdplattenverschiebungen in den sechziger Jahren, an denen der Autodidakt Brötzmann spätestens mit dem Album »Machine Gun« von 1968 erheblichen Anteil hatte, war er immer seltener in Wuppertal anzutreffen, während er sich schnell in den Avantgarde-Hochburgen New York und vor allem in Chicago durchsetzte. Und an die Stelle seiner hyperventilierenden Saxophon-Schreie, mit denen er sich das Label eines »Kaputtspielers« erarbeitet hatte, trat eine stilistische Beweglichkeit, die so avanciert blieb, wie sie Rückbezüge nicht scheute. »Wenn ich heute Lectures an den amerikanischen Colleges gebe, muss ich die Studenten erst einmal mit der Nase auf die Wurzeln des Jazz stoßen, auf den Blues, den Folksong oder den Jailhouse-Rock. Man kommt einfach um die Tradition des Jazz nicht herum.« Nur von der neo-konservativen Jazz-Pflege des Trompeters Wynton Marsalis und seinen von Coca-Cola-gesponserten Mainstream-Konzerten hält Brötzmann nun wirklich nicht viel bis gar nichts: »Da höre ich mir lieber die Originale von Duke Ellington oder Art Blakey an!«
Überhaupt hat Jazz für Brötzmann nichts von seiner kommunikativen Energie verloren, als dass man ihn so retrospektiv in Watte packen müsste. Obwohl sich die politischen Vorzeichen geändert haben und »unser Ärger und unsere Wut von damals abgekühlt sind, gibt es noch soviel Dummheit in der Welt, gegen die ich anspielen will.« Vollkommen falsch wäre es aber, hinter jeder rauhbeinigen Attacke und jedem tiefschwarzen Balladen- Lamento gleich eine klangmimetische Beschreibung von Lohn-Dumping oder einer verfehlten Kulturpolitik ausmachen zu wollen. Kritik bringt Brötzmann lieber im Gespräch auf den Punkt. Dann lässt er sich über die fehlende Basisarbeit in den Schulen und Kindergärten aus. Allein das Wort »Event« bringe ihn »zum Kotzen. Als ich noch ein ziemlich junger Mann war, konnten wir mindestens einmal im Jahr durch alle Unis tingeln. Heute, wenn ich mir die Plakate angucke, sehe ich Ankündigungen für ›Wet-TShirt- Contests‹ und solchen Bullshit. Das ist die Tendenz. Mittlerweile liegt es auch schon 25 Jahre zurück, dass ich in Schulen eingeladen worden bin. Die Möglichkeiten von engagierten Musiklehrern sind durchaus begrenzt.
Allein vom Stress her, aber auch wegen der finanziellen Möglichkeiten. Meine Arbeit ist sowieso nicht zu bezahlen. Aber wenn ich einen Tag in eine Schule gehe, ist das ein Tag aus meinem Leben – und irgendwer muss ihn bezahlen. Das ist dann die ganz praktische Seite.«
Brötzmann – der einsame Lärmer im nordrhein-westfälischen Kultur-Unterholz? Ganz so ist es dann doch nicht. Immerhin in Wuppertal, wo er mit seinem Freund, dem 2002 verstorbenen Bassisten Peter Kowald die Zwei-Mann-Zentrale des europäischen Free- Jazz bildete, hat er unter den städtischen Verantwortlichen immer noch einige ihm wohl gesonnene Fürsprecher. Und so bekam er nach 35 Jahren im Januar nun zum zweiten Mal den Wuppertaler Eduard-von-der- Heydt-Preis verliehen. Damals war er noch als eine Art Förderpreis einem Musiker überreicht worden, der schon längst ausgezogen war, um den Jazz-Puristen und -Kulinarikern das Fürchten zu lehren. Heute ist Brötzmann nach zahllosen eigenen Trios, Einladungen in alle Welt und Projekten mit allen Größen von Don Cherry über Albert Mangelsdorff bis zu Bill Laswell in jedem Jazz-Standardwerk zu finden. Auf solche Ehrungen reagiert er ziemlich gelassen: »Ich weiß schon, was ich geleistet habe und was ich hoffentlich noch zu leisten imstande bin.« Wenn er sich zumindest an das selbst auferlegte Alkohol-Verbot hält, kann Peter Brötzmann sich vielleicht auch einen seiner letzten Träume erfüllen und endlich mit einem der größten noch lebenden Jazz-Musiker zusammenspielen: »Ornette Coleman – das wäre schon nicht schlecht.«
Peter Brötzmann spielt am 11. März 2006 im Rahmen des 10. »Nozart«- Festivals im Basement, Köln; www.nozart.de