TEXT: ANDREAS WILINK
Das Vorspiel schafft traumverlorene, phantastisch surreale Bilder – näher verwandt mit einem anderen Genre als dem Kino. Die Malerei, um eine berauschende Dimension erweitert, bildet den Referenzraum. Vor allem Pieter Brueghel d. Ä. mit seiner geheimnisvollen »Heimkehr der Jäger im Winter«. Fledermäuse stürzen. Eine Sonnenuhr wirft ihren Schatten in einem feudalen Park. Ein Rappe knickt ein und geht dramatisch zu Boden. Planeten tanzen. Drei Personen versammeln sich vor einem Schloss. Eine Braut im Wald – dem Wasser hingegeben wie Ophelia – hält Maiglöckchen in der Hand.
Und doch ist die zweistündige Missa Solemnis vom Sonnenuntergang nahezu demütig schlicht. Die Bilder von »Melancholia«, ja die Geschichte selbst, entspringen einem kranken Gehirn. Nein, nicht dem des Regisseurs, den wir als Filmemacher so ernst nehmen, dass wir sein Geschwätz in Cannes besser auf immer vergessen, sondern dem der Hauptfigur Justine (Kirsten Dunst). Obwohl strahlend blond und zauberschön, ist sie befangen in ihrem Seelendunkel, depressiv verstört. Eine Melancholikerin im Zeichen des Saturn hätte man vor Zeiten gesagt. Die geistige Umdüsterung delegiert sie in einem Transformationsprozess an einen aus seiner Umlaufbahn geratenen Planeten, der hinter der Sonne zum Vorschein kommt, sich der Erde nähert und ihr gewaltsam das Ende bereitet. Der klinische Fall wird zur globalen Katastrophe: zum Weltende. Dass die Kollision der Gestirne ebenfalls wunderschön anzusehen ist – »Denn das Schöne ist nichts als des Schrecklichen Anfang« – gehört zum parallelen Muster von Frau und Katastrophen-Finale.
Lars von Triers Frauenbild war immer ähnlich fatal wie das von Richard Wagner, dessen »Tristan«-Vorspiel den sogend sehnenden Sound bereitstellt und hier manchmal tatsächlich klingt wie Bernard Herrmanns »Vertigo«-Musik für Hitchcock, dessen Geschichte ja auch von einer Untoten handelt.
Der erste Teil von »Melancholia« (»Justine«) könnte auch »Das Fest« heißen, der zweite Teil (»Claire«) auch »Der Untergang«. Braut und Bräutigam verspäten sich, weil ihre Stretchlimousine nicht den kurvig engen Waldweg passieren kann (der Wald – auch eine Lars von Trier-Konstante, erinnert sei an »Breaking the Waves« und »Antichrist«). Viel zu spät erreichen sie den zum exklusiven Golfhotel umgewidmeten Herrensitz und die mondäne Feier, die die Schwester der Braut, Claire, und deren steinreicher Gatte John(Kiefer Sutherland) ausrichten. Erfolg, Luxus, Glanz aber verdecken nicht das Brüchige, Gehässige und Versehrte der Personen. Das Geheimnis der falschen Braut: Justine kann nicht lieben, nicht aus ihrer Haut, nicht froh sein. Ihre zerstörerische Kraft ist stärker. Vielleicht auch ihr Wissen, Ahnen und Fühlen um das, was droht.
Was für eine Familie: der Vater – ein abgelebter Lebemann (John Hurt), die Mutter – eine bis zum Kaltschnäuzigen unsentimentale Zynikerin (Charlotte Rampling), der frisch angetraute Ehemann Michael – ein netter, harmlos geiler Milchbart (Alexander Skarsgaard), Claire (Charlotte Gainsbourg), die pragmatisch bis verzweifelt um ihr und ihrer Schwester Glück kämpft. Als Justine wieder einmal zögert, unfähig, zu handeln, Erwartungen zu erfüllen, Rituale zu bedienen, wirft Claire deren Brautstrauß einfach hinab in die Schar der Gäste.
Die Figuren leben wie isoliert auf dem Anwesen. Von einem Dorf ist die Rede. Aber niemand sonst zu sehen. Die Welt bleibt draußen. Keine Nachrichten. Kein mediales Echo. Keine Erklärungen. Keine Menschenseele. Ein Horror-Szenario. Und immer bewegt sich etwas am Himmel, langsam sich nähernd. Der rote Antares aus dem Sternbild des Skorpion und damit die Ekliptik scheint sich zu verschieben. Justine, unruhig wie die Rassepferde im Stall, wittert die Gefahr, geistert umher: eine nackte nächtliche Casta Diva. Und findet doch als einzige zur Ruhe. Nimmt das Schicksal an. Hagel fällt, als Flyby heranzieht. Und dann der Big Bang. Schluss. Niemand klagt. Alles schweigt. Nur der Regisseur hat sich einmal nicht daran gehalten. Seinem todesschönen Requiem nimmt das nichts.
»Melancholia«; Regie: Lars von Trier; Darsteller: Kirsten Dunst, Charlotte Gainsbourg, Kiefer Sutherland, Charlotte Rampling, John Hurt, Alexander Skarsgaard; Dänemark 2011; 130 Min.; Start: 6. Okt. 2011.