TEXT: MICHAEL STRUCK-SCHLOEN
Zwei Frauen. Die eine scheint der Inbegriff von Energie, Tatkraft, Temperament. Die Münchnerin Carolin Widmann ist Geigerin, ihr Haar so rot wie das gefirnisste Holz der Geige, auf der sie spielt: konzentriert und funkenschlagend, unbeirrbar in sich kreisend, aber durch diese Ernsthaftigkeit um so stärker nach außen wirkend. Eine aufregende Mischung aus Bühnenpräsenz und Verinnerlichung.
Die andere wirkt gelassener und weniger enerviert, fast unscheinbar mit ihrer runden Nickelbrille. Rebecca Saunders ist Komponistin aus London, die vor zwei Jahrzehnten der Insel den Rücken kehrte (im emphatischen Sinne!), beim deutschen Komponisten Wolfgang Rihm in Karlsruhe lernte und heute in Berlin lebt. Aber ihre Sanftheit ist nur die Kehrseite einer inneren Unruhe, die sie immer wieder auf Expeditionen in unbekannte Regionen der Klänge und der Stille treibt. Und ebenso wie Widmann wusste Saunders von Anfang an, was sie will: keinen musikalischen Mainstream, keine Anbiederung an Festivalmacher und Trends, sondern dem eigenen Herzschlag folgen.
Zwei Frauen, die jetzt ihren Eigensinn in einem gemeinsamen Werk ausleben. »Gemeinsam« bedeutet dabei keineswegs eine Entmündigung der Komponistin durch den allmächtigen Podiumstar, wie es im 19. Jahrhundert gelegentlich vorkam – man erinnere sich an die »Ratschläge« des Geigers Joseph Joachim an Max Bruch und Johannes Brahms, die zuweilen Züge fachlicher Überheblichkeit annahmen. Rebecca Saunders hingegen sucht den Kontakt mit ihren Musikern, in denen sie nicht nur Ausführende, sondern in einem frühen laborartigen Stadium auch Mitschöpfer sieht. Also begab sie sich vor einem halben Jahr nach Leipzig, wo Carolin Widmann als Professorin lehrt, um das neue Violinkonzert im Auftrag des Bonner Beethovenfestes und des britischen Senders BBC 3 vorzubereiten.
»Es war eine Art Jam-Session«, erinnert sich Widmann: »Klangforschung, bei der die Einfälle allmählich ins Laufen kamen. Und als ich einmal nicht das traf, was Rebecca vorschwebte, nahm sie einfach selbst die Geige in die Hand. Dabei kam heraus, dass sie das Instrument studiert hat, vor Jahrzehnten in Edinburgh.«
Für Saunders sind solche Sessions nicht nur Inspiration oder Vorbereitung, sondern Teil der Komposition selbst. Damit gehört die 1967 Geborene einer Generation an, die musikalischen Sinn nicht mehr in logischen, am Schreibtisch vorgefertigten Strukturen erblickt, sondern in Klangfeldern und -prozessen. Sie notiert Fragmente und heftet sie dann in ihrem Berliner Atelier an die Wand. »Das kann dann eine Palette von kontrastreichen Grundklängen ergeben«, sagt sie, und nicht nur der Begriff Palette erinnert an die Arbeit einer Malerin.
Chroma (Farbe) ist der Titel einer vielschichtigen Installation aus kleinen Kammerstücken, die sie 2003 für die ehemalige Industriekathedrale der Tate Modern in London konzipierte; mit dem Duo Blue and Gray für zwei Kontrabässe bezog sie sich auf ein Bild von Mark Rothko, mit Farbtiteln wie cinnabar, crimson, vermilion oder Into the Blue auf das berührende Buch Chroma, das der Filmemacher und Ma-ler Derek Jarman kurz vor seinem Aids-Tod 1994 schrieb.
Saunders dient dieses reiche Aufgebot an Farben als Metapher für Klänge, die eigentlich nur technisch zu beschreiben sind – wie die Grundklänge ihres neuen Violinkonzerts. »Einer beginnt mit einer expressiven, großen Geste aus dem Nichts bis zum einem verzerrten Fortissimo: iiusch! Dazu ein Doppeltriller im höchsten Register auf der dritten und vierten Saite, vielleicht als schleifendes Glissando, vielleicht stabil oder sehr beweglich. Dahinter sehe ich aber auch die körperliche Geste der Solistin: Carolin macht das mit höchster Spannung, höchster Expressivität und Leidenschaft, die aber sehr kontrolliert sind. Das macht es so professionell und so spannend.«
Tatsächlich hat Saunders Vergleichsmöglichkeiten mit der Crème heutiger Neue-Musik-Interpreten, darunter das in Köln beheimatete Ensemble musikFabrik, das in diesem Herbst ein neues großes Werk beim Festival in Donaueschingen uraufführen wird, und sogar die tief in der Tradition wurzelnde Staatskapelle Dresden, für die Saunders als Capell-Compositrice in der Saison 2009/2010 mehrere Stücke komponiert hat.
Der Druck der Tradition lastet freilich auch auf dem Solokonzert, das weit mehr historisches Bewusstsein von der Komponistin verlangt, als ein frei fließendes Stück wie Stirrings Still, in dem die Musiker die experimentell erar beiteten Klangfelder in größter Eigenständigkeit vernetzen. Nicht dass Brahms, Tschaikowsky, Bartók oder Rihm durch ihre großen Schatten lähmend wirkten. Aber die Dimensionen und wechselnden Perspektiven zwischen dem Close-up der Solostimme und der Totale des Orchesters bilden andere Herausforderungen. »Wenn man 80 Musiker auf der Bühne hat, muss man mit viel breiterem Pinsel arbeiten und einen anderen Abstand zur Entwicklung des Klangs haben.« Dabei stellt Saunders der Solistin weitere Individuen zur Seite. »Das Orchester wird mit der Geige vielfach vernetzt. Einige Töne werden immer von der Solo-Oboe gespielt, andere immer vom Solo-Kontrabass, das Solo-Streichquartett spielt bestimmte Klänge mit der Solistin. Und ohne Akkordeon kann ich sowieso keine Orchestermusik schreiben. Es verbindet alles mit allem.«
»Still« schwebt als Titel über diesem Netzwerk an Klängen und solistischen »Diagonalen« im Orchester: Titel einer Kurzgeschichte von Samuel Beckett, dessen zunehmend skelettierte Sprache und bohrende Sinnsuche im Absurden Saunders fasziniert. »Becketts Still«, so die Komponistin im Werkkommentar, »skizziert eine einzige Situation: Den Kopf zur untergehenden Sonne gewandt, verfolgt der namenlose Protagonist den Einbruch der Nacht, die anschwellende Dunkelheit. Dann bettet er langsam und vorsichtig den Kopf in seine Hände und wartet, während die Dunkelheit ihn umgibt, auf einen Klang. […] Ein Stillstand: der menschliche Körper, wartend, zitternd.«
Aus Stillstand und Stille wächst bei Saunders immer eine Frische und Intensität des Klangs. Stille ist der Rahmen, der das Licht verändert, der das überraschende Aufblitzen von Klang als stets neues, in mühevoller Arbeit geformtes Objekt erscheinen lässt – »wie ein gigantisches Mobile, das sich nicht in sich, sondern nur durch die wechselnde Perspektive des Betrachters verändert«. Und natürlich durch den Einsatz der Solistin, ohne die dieses Konzert ein anderes geworden wäre.
Rebecca Saunders, Konzert für Violine und Orchester; Uraufführung als »Besonderer Auftrag« beim Beethovenfest in der Beethovenhalle Bonn, 29. Sept. 2011; es spielen Carolin Widmann (Violine) und das BBC Symphony Orchestra unter Sylvain Cambreling; außerdem auf dem Programm Werke von Carl Maria von Weber sowie Gustav Mahlers Sinfonie Nr. 4; www.beethovenfest.de