TEXT: ANDREAS WILINK
Hanna reist im Flugzeug, aber sie sitzt in der Zeitmaschine: Berlin – Tel Aviv. Beschleunigung im Rückwärtsgang. Die BWL-Studentin kurz vor dem Examen und einer schnittigen Karriere im Marketing braucht noch ein soziales Projekt für die perfekte Berufs-Biografie. Eigentlich will sie nur das Zeugnis und nicht die gute Tat selbst. Aber ihre Mutter (Suzanne von Borsody), Gründerin der »Aktion Friedensdienste«, die ihr den Schein ausstellen könnte, weigert sich und vermittelt sie für drei Monate aus dem deutschen Spät-Winter ins Gelobte Sonnen-Land. »Was mit Juden kommt immer gut. Und behinderte Juden toppen das noch«, sagt Hanna flapsig zu ihrem Freund Alex, der mit ihr die Zukunft verplant und dafür schon eine schicke Wohnung einrichtet und selbst jede Beschäftigung mit der Vergangenheit (auch der eigenen vor der Wende in der DDR) bewusst in einer Gedächtnislücke versenkt. Die Gnade der späten Geburt als gnadenlos historische Ignoranz.
Als Hanna (Karoline Schuch) in der Sozialeinrichtung ankommt, kontert Itay (Doron Amit), der Psychologe der Anstalt, mit der Replik: »Wo Euch die Holocaust-Überlebenden ausgehen, stürzt Ihr Euch nun auf die Behinderten.« Nein, korrekt ist das alles nicht. Die Geschichte von Julia von Heinz (Regie) und John Quester (Buch) hat viel vor, und das meiste schaffen die Filmemacher auch. Eine erst zu nehmende Beziehungs-Komödie auf vermintem Gelände, inklusive Familien-Geheimnis, das ins dritte Glied zurückreicht, als Hannas Großeltern sich durch Arisierung und Enteignung jüdischen Besitzes bereicherten, ihre Mutter sich deshalb von den Eltern lossagte und wiedergutzumachen suchte, was sie wiederum von ihrer ahnungslosen Tochter entfremdete. Die Bibel spricht von Erbsünde. Niemand schwingt hier die Moralkeule. Auch die Holocaust-Überlebende Gertraud Nussbaum im Altenheim hat Hanna auf ihrer to-do-Liste. Zwischen ihnen kehren sich die Rollen um. Die aufmerksam kluge, gelassene alte Dame legt Hanna gewissermaßen auf die Couch. Und öffnet ihr die Augen, zum Beispiel bei Gängen durch Tel Aviv, wo sie überall, auf Geschäftsschildern etwa, deutsche Namen anblicken. Hanna, die mit zwei weiteren deutschen Friedensdienst-Tätigen (einer verbohrten linken Lesbe und einem klampfenden Softie) in einer Schmuddel-WG wohnt, und Itay verlieben sich einander. Wider jede Vernunft. Denn auch auf Itays Familie lasten einige Päckchen, ebenfalls deponiert in Berlin. Hanna wird Zeit verstehen lernen, wird lernen, das eine zu lassen (nicht mehr eine ihrer Patientinnen an ihr eigenes Zeitmaß anpassen zu wollen) und das andere zu tun (sich für das, was war, zu interessieren). Am Ende scheinen in den Kamera-Einstellungen die beiden Städte ineinander zu wachsen und momentweise ununterscheidbar zu sein. So mag es wohl sein mit Deutschen und Juden.
»Hannas Reise«; Regie: Julia von Heinz; Darsteller: Karoline Schuch, Doron Amit, Max Mauff, Lore Richter, Trystan Pütter, Suzanne von Borsody; D 2013; 100 Min.; soeben angelaufen.