Unbekanntes zu entdecken gibt es auf Reisen ja in den seltensten Fällen. Wer heute auf große Fahrt geht, weiß in der Regel schon vorher, was ihn auf welcher Station erwartet.
Anders die Ich-Erzählerin in Marion Poschmanns »Schwarzweißroman«, die ihre terra incognita am grandios verschneiten Ende des Romans im atomar verseuchten Bannkreis um das Atomkraft werk Tscheljabinsk findet. Einem Sperrbezirk, nicht weit der Grenze zwischen Europa und Asien, der, so wird irgendwann gesagt, im offiziellen Kartenmaterial lange Zeit überhaupt nicht verzeichnet war. Ihr ist es die letzte Etappe einer mehr oder weniger beabsichtigten Selbsterprobung, die in einem Flugzeug beginnt, in »pochender Dunkelheit eines formlosen schwarzen Raumes« und in einem »unfassbaren Weiß« endet. Dazwischen entfaltet die diesjährige Preisträgerin des Literaturpreises Ruhrgebiet ein atmosphärisches Spektrum, das vor allem wegen seiner zahlreichen, sehr fein nuancierten Grautöne besticht.
Die junge Erzählerin reist in den 90er Jahren in die triste russische Retorten-Industriestadt Magnitogorsk im Ural, vordergründig um ihren Vater zu besuchen, der dort im Auftrag einer deutschen Firma als Elektroingenieur eine Großbaustelle betreut. Doch geht es ihr mehr darum, aus dem eigenen »Biographieloch « heraus zu finden, der Arbeits- und Beschäftigungslosigkeit nach dem Studium davon zu laufen. Einmal angekommen, erfasst sie rasch der »Russlandkoller«, dessen Opfer die in einem Hotel lebenden deutschen Arbeiter allesamt schon lange geworden sind.
Alkohol und sexuelle Ausschweifungen von deprimierender Erbärmlichkeit halten den einen bei Laune, der andere legt sich gar ein kleinbürgerlich ausstaffiertes Doppelleben samt ältlicher einheimischer Ersatzfrau zu.Sie selbst beginnt eine Affäre, deren Praxis sich von Vergewaltigung nur schwer unterscheiden lässt.
Mehr noch als das Gift , das als Folge industriellen Raubbaus in Luft , Boden und Lebensmitteln allgegenwärtig ist, zerstört die selbst nach ihrem Ende hier offenbar noch weiter wirkende Tradition sowjetischer Zwangskollektivierung die Menschen. Als seien sie letzte Zeugen dafür, dass die Geschichte die Gegenwart nicht in ihre postsozialistische Phase entlassen will. Dabei gelingt Poschmann das außergewöhnliche Kunststück, mit fortschreitender Verlangsamung des Lebens und immer zäher fließender Zeit einen wachsenden Erzählsog zu entfalten. Ähnlich den haarfeinen Schichten der Glasvase mit milchigem Moiré-Muster, die in dem Hotelzimmer des Vaters steht, lagert auch sie die Gefühlswerte ihrer Erzählerin übereinander, fi ndet eine hoch sensible Sprache für »fi ebrige, federleichte Gefühle«, belässt anderes, wie die ungeklärte Tochter-Vater-Beziehung, subtil in der Schwebe. Nicht allein, dass Marion Poschmann dabei mühelos zwischen hoch gespannten Lyrismen und provozierender Nüchternheit zu wechseln versteht, macht den »Schwarzweißroman« zu einem besonderen.
So überbordend an Wahrnehmungsreichtum, dass man bisweilen den Eindruck haben kann, Marion Poschmann arbeite ein mit Originellem reich gefülltes Notizbuch ab.Doch gibt es weit Schlimmeres für eine Autorin, als eine manchmal noch zu Abschweifungen verleitende Beobachtungsgabe.
Marion Poschmann: Schwarzweißroman; Frankfurter Verlagsanstalt 2005, 320 S., 19,90 €