TEXT: ANDREJ KLAHN
Neulich war er mal wieder irgendwo zu lesen, der renovierungsbedürftigste aller Feuilleton-Altbauwohnungssätze: »Die deutsche Literatur verlässt die sanierte Altbauwohnung und begibt sich dorthin, wo das Leben tobt«. So oder so ähnlich wird das jedes Jahr in irgendeinem Kulturteil zu Papier gebracht. Häufig kommt dann auch das Leipziger Literaturinstitut ins Spiel, das Stipendienwesen, von Nabelschau ist die Rede oder von Erfahrungsarmut, oder gleich von beidem. Auf Stephan Groetzner treffen derlei Vorwürfe vermutlich nicht zu. Der 1965 in Hamburg geborene »open mike«-Preisträger von 1998 hat sich als Barkeeper, Chorleiter, Erntehelfer, Galerist oder Wachtmeister betätigt. In seinem Buch »Die Kuh in meinem Kopf«, eine Sammlung kürzerer Texte unterschiedlichen Zuschnitts, streift er durch jene Gegenden, wo das Denken tobt.
Mit »Erste Anmerkungen zur ersten Hälfte der ersten Fußnote des ersten Kapitels der Derrida’schen Grammatologie (Erste Hälfte)« pirscht sich Groetzner zunächst ins Grenzgebiet zwischen Philosophie und Literatur vor, um ein bisschen Derridada aufzuführen. Sprachtheorie und Wort-akrobatik produzieren dabei eine Art höheren Unsinn, der als philosophischer Kommentar, streckenweise aber auch als Witzesammlung für Habilitanden durchgehen kann. Komisch ist das auch, zugleich aber hat der Leser das Gefühl, einem Denken dabei zuzusehen, wie es sich verzweifelt selbst in den Griff zu bekommen versucht. In dekonstruktiver Tradition gesteht Groetzner bei dieser Befingerung der Sprache ihr eigenes Recht zu, lässt sich treiben, buchstäblich und mental, spielt kalauernd mit Aporien und Paradoxien. Am Ende dieses merkwürdigen Buches bleibt neben vielen Fragen auch die offen, wen man mehr bewundern soll: Die Lit.Cologne für die Kühnheit, diese Konzentration und philosophische Bildung einfordernde Prosa einem Publikum vorzusetzen, dem der Sinn eher nach Zerstreuung steht, oder aber den Mut Groetzners, vor eben diesem Publikum zu lesen.
Auch in Nina Bußmanns Debüt »Große Ferien« kämpft ein Mann mit sich selbst, doch nimmt er den Umweg über seinen Garten: Früh morgens kniet Schramm mit der Spitzhacke auf der Auffahrtrampe, jätet Unkraut, zupft Grünzeug, kalkt das Rosenbeet, beschneidet den Blauregen. Schramm ist Lehrer für Mathematik, Physik und Erdkunde, die Gartenarbeit seine Obsession. Denn, so heißt es vieldeutig und doppelbödig
sexuell grundiert in »Große Ferien«: »Die Natur stundet nicht.« Während Schramm das Übel an der Wurzel zu packen versucht, schweifen die Gedanken ab: »Wir ordnens, damits zerfällt, damit wirs wieder ordnen und so fort.« Das spielt ganz offensichtlich auf Rilkes Achte Duineser Elegie an, nur dass Schramm ausspart, was die 1980 geborene Bußmann sehr virtuos entfaltet: seinen Zerfall. »Uns überfüllts. Wir ordnens. Es zerfällt. Wir ordnens wieder und zerfallen selbst.«
Schramms Leben ist aus den Fugen geraten. In der Schule ist etwas passiert; etwas, das er selbst nur »Vorkommnis« nennt. Er hat sich angezeigt und krank schreiben lassen – vor Beginn der Sommerferien, die für Schramm wohl nicht mehr zu Ende gehen werden. Mit Waidschmidt, dem aus Kirgisien übergesiedelte Schüler, hat dieses Vorkommnis zu tun, der nach einem psychischen Zusammenbruch suizidgefährdet in der Klinik liegt. Seitdem spucken Schüler vor Schramm aus. Was genau geschehen ist, deutet Nina Bußmann in »Große Ferien« nur vage an. Eine zum Schlag erhobene Hand, eine einseitige Anziehung homosexueller Natur; die Schicksalsgemeinschaft der intellektuellen Sonderlinge, gestiftet durch Ambition, Pedanterie und Fleiß. All das könnte sich auch zu einer Geschichte von Erniedrigung und Erpressung verfestigen. Was fehlt, ist eine Beglaubigung, eine letztgültige Version.
Doch Bußmann interessiert sich nicht für Indizien, sondern für Schramms Welt. Sie nistet den Leser unter Schramms Schädeldecke ein, der selbst nicht so recht weiß, was und wie ihm geschieht. Plötzlich ist man mittendrin in diesem Denken in Aufruhr, das sich durch Arbeit und Struktur nicht mehr disziplinieren lässt. Alles ist fragwürdig geworden. Die Vergangenheit gibt keinen Halt mehr, ganz im Gegenteil: der Rückblick entdeckt Symptome. Verdrängte Selbstzweifel schießen ins Kraut, und mit jedem Versuch, sie auszuschaben, gräbt Schramm sich immer mehr den Boden unter den Füßen weg.
In der Demontage zeichnet Nina Bußmann mit feinem Strich und frei von Moral das Psychogramm eines Menschen, der ein Zuschauer-Dasein führt. So ist »Große Ferien« weniger ein Schulroman als das inwändige Porträt des Gehemmten als Getriebener, scharf kontrastiert am Bild des Bruders. Viktor, der so selten zurückkommt in das Haus, in dem die Brüder aufgewachsen sind und dann jedes Mal eine andere Frau dabei hat, aufsässig, pflichtvergessen, teilnahmslos. Trotz zeitweiliger oder auch nur unterstellter Neigung zum Terrorismus hat der Jüngere die größere Karriere gemacht, während Schramm zum Hüter des Elternhauses geworden ist, in dessen Garten die Neurosen in den leuchtendsten Farben blühen. Dass das so ungeheuerlich atmosphärisch und beklemmend ist, verdankt sich Bußmanns Gespür für Dramaturgie und Erzählökonomie: Mal spiegelt sich Schramms Suche nach Ordnung im Beschreibungswahn, dann wieder braucht es nur wenige, knappe Andeutungen, um klar zu machen, über welchem Abgrund dieser Zwangscharakter balanciert.
Ein Grenzgang ist auch die Liebesgeschichte, die Matthias Nawrat unter dem mehrdeutigen Titel »Wir zwei allein« vorlegt. Emotionale Exklusivität kann damit genauso gemeint sein wie die Einsamkeit in der Zweisamkeit, und in dieser Spannung entfaltet sich der Roman. Mit Benz, dem empfindsamen Ich-Erzähler, der auf die Dreißig zugeht, Gemüsekisten ausfährt, statt das Studium zu Ende zu bringen, rutschende Jogginghosen trägt und abends in der Kneipe darauf wartet, dass sich der Vorhang der Tür teilt. Dann erscheint Theres, und er kann sich in ein ganz außerordentliches Gefühl hinein exaltieren. Denn Benz ist ein charmanter rhetorischer Pyrotechniker, der sich an den eigenen Effekten berauscht und die Phantasie ein Feuerwerk des Potentialis abbrennen lässt.
Wie ein langer Liebesbrief (und stilistisch bisweilen arg prätentiös) liest sich Nawrats Roman zunächst; unendlich blauer Himmel, Bäche und Wälder riechen, die Kohlmeise zwitschert. Allein die Adressatin scheint etwas kompliziert zu sein: zunächst zurückhaltend und ausweichend, dann überdreht, rückhaltlos und (über-)fordernd. »Es fehlt ein bisschen Salz«, stellt Theres nach der ersten gemeinsamen Nacht fest, dabei den Küchenschrank wie die Zukunft im Blick.
Das ist eine oft erzählte Geschichte. Doch der 1979 geborene Nawrat lässt Theres’ Spiel mit Entzug und Hingabe ins Unheimliche kippen. Die amouröse Überspanntheit nimmt pathologische Züge an, der Hormonhaushalt wird in ein anderes Ungleichgewicht verschoben, so dass sich durch die unberechenbare Stimmung schwankender Verliebtheit hindurch die manische Depression zu erkennen gibt.
Über mehrere Generationen verfolgt Matthias Senkel in seinem Roman »Frühe Vögel«, wie eine Familie davon träumt aufzusteigen. Dafür braucht es ein Personenverzeichnis von mehr als 100 Seiten. Wer jetzt vermutet, dass der 1977 in Greiz geborene »open mike«-Preisträger 2009 ein bisschen auf Balzac des 21. Jahrhunderts machen möchte, liegt sehr falsch. Was das Personal Senkels treibt, ist weniger das soziale Prestige als der Wunsch, buchstäblich abzuheben. In der Namensliste, die Senkel unter dem bemerkenswerten Titel »Exit Personnage« zusammengetragen und die ein gutes Drittel des gesamten Buches einnimmt, haben vor allem die geschätzt 300 Damen und Herren Aufnahme gefunden, die für den Fortgang der Handlung nahezu irrelevant sind. Auch erfährt der Leser wenig über Leben und Wirken dieser Menschen, allein die kuriosen Umstände ihres Todes werden berichtet.
Mit der Haupthandlung verzahnt ist dieses Ablebensverzeichnis durch Seitenzahlen am Rand der eigentlichen Geschichte, die in dem Bahnhofsvorsteher und überzeugten Eisenbahner Theodor Ernst Leopold Leudoldt ihren biologischen Ausgangspunkt hat. Geografisch führt sie von Leipzig über Berlin nach Twickenham, Alabama, bis nach New York und wieder zurück nach Deutschland, leichtfüßig und mit großen Schritten durch zwei Weltkriege hindurch in die Zeit, in der die Welt in zwei Blöcke zerfällt und Ehen von kürzerer Haltbarkeit sind. Das Wirken der Luftfahrtpioniere entfaltet sich unter den Hallendächern der »Leipziger Flugzeugwerke«, im Verkehrsministerium der Weimarer Republik und in nordamerikanischen Laboren und Raketenwerkstätten.
All das erzählt Senkel nicht konventionell der Reihe nach, noch ist er ein »raunender Beschwörer des Imperfekts.« Zwei der acht Kapitel bestehen aus einer Vielzahl von kurzen Abschnitten, die – anders als das Randfiguren-Verzeichnis – alphabetisch sortiert und fortlaufend nach Überschriften angeordnet sind. Am Ende eines jeden Abschnittes wird jeweils auf den chronologisch folgenden verwiesen, der sich an ganz anderer Stelle findet. Liest man den Text also in der durch die Seitenzahlen vorgegebenen Abfolge, wird die Handlung aus ihrem zeitlichen Kausalzusammenhang gelöst. Ziemlich kompliziert, und Leser, die der Gebrauchsanweisung des Buches folgen, sind gut beraten, ein paar Post-its bereit zu halten, um beim ständigen Vor und Zurück nicht irgendwann die Orientierung zu verlieren. Hat man sich aber erst einmal in die Sache hineingeblättert, die Verwandschaftsverhältnisse klar bekommen, ist Senkels »Frühe Vögel« allerfeinste Unterhaltung. Von intelligenter Komik, subtiler Ironie und einem Anspielungsreichtum, der selbst die selbstbewusste Anmerkung, der Autor habe Anleihen bei John Dos Passos, Alexander Kluge oder etwa James Joyce genommen, wenig vermessen erscheinen lässt.
Natürlich ließe sich der Handlungsstrang von »Frühe Vögel« in eine weniger verfrickelte Abfolge bringen, ohne dass das der Geschichte Abbruch tun würde. Denn Senkel ist, unabhängig vom formalen Elan, ein Erzähler, der sein Handwerk versteht. Doch das ausgetüftelte Arrangement ist kein Selbstzweck: Mit Hilfe seines Verweissystems hat Senkel die Familiensaga als Leseabenteuergeschichte neu eingerichtet, und es bleibt jedem überlassen, wie viele Tote er am Seitenrande aufsammeln und in »Exit Personnage« bestattet finden möchte. Zudem machen die Brüche, die auferzwungenen Pausen zwischen den Erzählabschnitten anschaulich, dass der Erzähler Matthias Senkel nicht zuletzt ein Virtuose der Aussparung ist. Wenn irgendwo das Leben tobt, dann in diesen Leerstellen.
Nina Bußmann: »Große Ferien«; Suhrkamp Verlag, Berlin 2012, 200 Seiten, 17,95 Euro. Erscheinungsdatum: 12. März 2012
Stephan Groetzner: »Die Kuh in meinem Kopf«; Literaturverlag Droschl, Wien 2012, 136 Seiten, 16 Euro
Matthias Nawrat: »Wir zwei allein«; Nagel und Kimche, München 2012, 192 Seiten, 17,90 Euro
Matthias Senkel: »Frühe Vögel«; Aufbau Verlag, Berlin 2012, 298 Seiten, 19,99 Euro. Erscheinungstermin: 12. März 2012
Gemeinsame Lesung auf der lit.Cologne am 16. März 2012 im Gloria. www.litcologne.de