// »Vielleicht« ist ein unverzichtbares Wort, wenn er über sich selbst spricht. »Das Versteckspiel, das ich als Autor betrieben habe, rührt vielleicht von einer Paranoia her«, sagt Norbert Gstrein. Oder: »Vielleicht waren das Gefühl der Fremdheit in dieser amerikanischen Community und die Entfernung Gründe, warum ich damals ›Einer‹ geschrieben habe.«
Der österreichische Schriftsteller jedenfalls schaltet in diesem großen Foyer, das sich überraschenderweise hinter der schlanken Hotelfassade gegenüber dem Hamburger Hauptbahnhof verbirgt, immer mal wieder in den Modus der Mutmaßung um. Vor allem dann, wenn es um persönliche Beweggründe oder Behauptungen geht, die allzu groß oder pathetisch klingen könnten. Schließlich ist die eigene Geschichte ja nie so rund, wie sie sein müsste, um von Journalisten unfallfrei auf zwei, drei Zeitungsseiten eingerichtet werden zu können. Vielleicht – ziem- lich sicher sogar – ist ein Gespräch, in dem in zwei Stunden mal eben das Leben hinter den Büchern erfragt wird, eine merkwürdige Anstrengung. Vielleicht ist es sogar eine Zumutung für einen, dessen Bücher auch davon handeln, wie Biografien im Rückblick zu Klischees gerinnen, wie die eine Wahrheit über ein Leben sich auflöst in vielstimmige Varianten.
Ganz von vorne angefangen, beginnt Gstreins Geschichte am 3.6.1961 in Mils bei Imst, wo er als zweites von sechs Kindern eines Hoteliers auf die Welt kommt. Sein vier Jahre jüngerer Bruder Bernhard wird später ein berühmter Skiläufer werden. Mils liegt in Tirol. Seinem ersten Ro-man, »Das Register«, wird Gstrein 1992 ein Zitat des Nicht-Tirolers Thomas Bernhard voran stellen, das, so erinnert er sich heute lachend, er damals wohl ernst gemeint haben könnte: »Wie viele unserer Talente hätten wir zu erstaunlicher Größe in uns entwickeln können, wären wir nicht in Tirol geboren worden und aufgewachsen.« In »Das Register« taucht ein Vater auf, der jeden Tag aufschreibt, was ihn seine Kinder kosten, um ihnen später die Rechnung präsentieren zu können. Es geht um eine unglückliche Jugend im engen Tirol, um zwei ungleiche Brüder, der eine ist Skiläufer, der andere Mathematiker. Mathematik hat auch Norbert Gstrein studiert, der nach diesem Studium an die Stanford University wechselt. Dort arbeitet er an einem Institut für künstliche Intelligenz. In dieser Zeit schreibt Gstrein sein erstes Buch: die 1988 erscheinende, für ein Debüt geradezu unheimlich perfekte Erzählung »Einer«. Sie spielt in einem vom Skitourismus geprägten österreichischen Dorf und handelt von Jakob, dem Außenseiter, der sich eine ganze Bibliothek zusammengelesen hat und sich nicht fügt in die Ortsgemeinschaft, genauso wenig wie in die des Internats, auf das er zeitweise geschickt wird.
Die Vermutung läge also nahe, dass da jemand seine Jugend schreibend aufarbeitet. Vielleicht. »Nennen Sie es meinetwegen existenzielle Notwendigkeit«, sagt Gstrein über seine ersten Arbeiten, um dann hinterherzuschicken: »Solche autobiografischen Erklärungsversuche sind glättend, wobei sie natürlich immer auch richtig sind.« Als ziemlich gesichert darf hingegen gelten, dass Gstrein ohne den Aufenthalt in Stanford für das, was er damals hat erzählen wollen, einen ganz anderen Ton hätte finden müssen. Denn bei der Suche nach einer natürlichen Sprache für Computer hat Gstrein seine ganz eigene gefunden, mit der es ihm gelingt, das seit Thomas Bernhard eigentlich ausgereizte Genre des Anti-Heimatromans neu zu beleben. In Stanford arbeitete er mit daran, eine Semantik zu entwickeln, »die davon ausgeht, dass jede Aussage aus der Situation heraus zu verstehen ist, in der sie geäußert wird«, erzählt Gstrein. »Dabei wird immer eine endliche Anzahl von Alternativen mitgeliefert, so dass ein Computer wählen kann: Es könnte so gewesen sein oder anders.« Vereinfacht und als literarisches Verfahren betrachtet, ließe sich also behaupten: Gstrein hat sich in Stanford eine Sprache der Mutmaßungen erarbeitet. Einen Stil und eine Form, durch die, wie er selbst sagt, »jede Aussage ein bisschen ins Graue verschoben wird«.
Dabei sind es häufig die Toten, die Gstreins Erzählen in Gang setzen. »Ich glaube nicht so sehr an die Selbstverständlichkeit der Literatur, als dass ich in der Fiktion nicht einen Anlass brauche«, sagt Gstrein. »Ein Toter ist da eine komfortable Situation, um über ein Leben zu erzählen. Das war bei meiner Mutter auch immer so. Immer, wenn jemand gestorben ist, und sei es in sehr ferner Nachbarschaft, hat sie mich angerufen. Nicht sensationslüstern, aber es war eine Meldung wert.«
Lange hat es dann gedauert, bis Gstrein literarisch den Alpenraum verließ. Mit Ausnahme der 1993 erscheinenden Novelle »O2«, sind seine bis in die Mitte der 1990er Jahre herauskommenden Romane und Erzählungen immer in Bergdörfern angesiedelt. Gstrein selbst reist in dieser Zeit durch die Welt. Berlin, Graz, San Francisco, Paris, Solothurn, Zürich heißen die Städte, in denen der mittlerweile seit Jahren in Hamburg lebende Schriftsteller mal kürzer, mal länger bleibt. Zu kurz jedenfalls, um irgendwo anzuwachsen. Das Exiliertsein der Figuren aus dem eigenen Leben ziehe sich als Spur durch seine Bücher, sagt Gstrein. Man könnte also jetzt wieder mutmaßen, eine weitere Variante liefern: Beschreibt da einer seine eigene Verfasstheit, deren äußeres Zeichen im wirklichen, eigenen Leben ein steter Wohnungswechsel ist? Vielleicht. Aber auch das Gegenteil wäre denkbar. »Man sollte so leben, daß man es danach erzählen kann«, sagt der Mann in Gstreins im letzten Jahr erschienenen Roman »Die Winter im Süden«. »Man kann alles erzählen«, antwortet ihm seine Frau. »Leben ist etwas anderes.«
Das politische, lebensrettende Exil ist dann Thema des Romans, den Die Zeit als »alpine Hochleistung« feiern und die FAZ zu den »interessantesten Büchern der deutschsprachigen Literatur der letzten Jahre« zählen sollte: »Die englischen Jahre«. Er erscheint gut ein Jahr, nachdem die Weltwoche die sogenannte Wilkomirski-Affäre aufdeckte. Ein in den Medien heftig und lange diskutierter literarischer Betrug, durch den der Schweizer Bruno Grosjean sich als Binjamin Wilkomirski eine jüdische Opferidentität erfunden und unter dem Titel »Bruchstücke« im Jüdischen Verlag mit großem Erfolg von einer »Kindheit 1939–1948« erzählt hatte. Wäre die Zeit zwischen dieser Enthüllung und dem Erscheinen der »Englischen Jahre« nicht zu kurz, um einen knapp 400 Seiten-Roman niederzuschreiben – man könnte vermuten, dass Gstrein mit seiner virtuos komponierten Geschichte über das Schicksal des vermeintlich jüdischen Exilanten Gabriel Hirschfelder auf Wilkomirski/Grosjean reagieren hätte wollen. Denn unter dem legendenumwobenen Namen des Schriftstellers Hirschfelder, so fördert die Spurensuche im Roman zutage, lebt ein gewisser Harrasser.
Der war eine Zeitlang zusammen mit dem wahren Hirschfelder in einem englischen Gefangenenlager auf der Isle of Man untergebracht und nahm nach dem Krieg dessen Identität an, nachdem Hirschfelder auf dem Weg nach Neufundland bei einem Schiffsunglück umgekommen war. Bis zum Ende des Romans lässt Gstrein die wahre Identität im Ungewissen und spielt so mit der Empathie-Bereitschaft seiner Leser – um sie dann leerlaufen zu lassen. Zugleich verhandelt er vorwegnehmend auch die denkbare Kritik mit, einem vermeintlichen Modethema aufgesessen zu sein. Eben diesen Zweifel hatte Gstrein selbst auch, als er mit der Arbeit an »Die englischen Jahre« begann. »Ich hatte das Gefühl, mich rechtfertigen zu müssen, weil es einen allzu aufnahmebereiten Buchmarkt für jüdische Geschichten aus der NS-Zeit gibt«, erinnert er sich. »Damals hätte man ja den Eindruck haben können, dass ich nur auf einen Zug aufspringen wollte. Gerade das habe ich dann aber zum Thema des Romans gemacht.« Weshalb »Die englischen Jahre« ein Buch über ein jüdisches Emigrantenschicksal geworden ist – mehr noch aber eines über dessen Darstellung.
In Gstreins Romanen und Erzählungen finden sich häufig derartige Rechtfertigungsprogramme eingebaut, am offensichtlichsten in dem 2003 erschienenen Roman »Das Handwerk des Tötens«. Vordergründig wird darin vom Schicksal des Kriegsreporters Christian Allmayer erzählt, der im Kosovo-Krieg umkommt. Im Kern aber geht es einmal mehr um das Verfehlen der Realität in der Fiktion. Wobei die bloße Feststellung, man könne nicht angemessen über den Krieg berichten, auf banale Weise richtig sei, sagt Gstrein. Doch wollte er, aus der Haltung des Kritikers heraus, »eine Leerstelle einkreisen, um vielleicht so ins Zentrum zu kommen.« Dabei stand ihm das Schicksal des 1999 erschossenen Stern-Reporters Gabriel Grüner vor Augen, dem er das Buch mit den Worten »zur Erinnerung an Gabriel Grüner (1963–1999) über dessen Leben und dessen Tod ich zu wenig weiß als daß ich davon erzählen könnte« widmet. Eine Erinnerung, die Gstrein eine harsche Kritik in der Zeit einbringt: »Gabriel Günter gab es wirklich«, machte sich deren Kritikerin Iris Radisch daran, den »Schlüsselroman, der sich als Nicht-Schlüsselroman verschlüsseln will« auf seinen vermeintlich realen Stoff hin durchsichtig zu machen, und unterstellte Gstrein »Missgunst und üble Nachrede«.
Gstrein hat diese Kritik getroffen wie kaum eine andere. Was nur allzu verständlich ist bei einem Schriftsteller, der immer wieder gesagt hat, er schreibe entlang der »Risse zwischenFiktion und Wirklichkeit«. Als er am Abend des 24. Dezember 2003, zwei Tage nach Erscheinen der Kritik, an der Rezeption des Zagreber Palace Hotels einchecken will, fällt sein Blick zufällig auf das Namensschild des Nachtportiers. Darauf steht: »I. Radiš«. Noch in der Nacht schreibt er der Kritikerin einen Brief, ohne eine Antwort zu bekommen; und er nimmt sich die Angelegenheit in dem Essay »Wem gehört eine Geschichte« erneut vor. »Wenn die Wirklichkeit zu I. Radisch zwei Personen liefert, wie kommen Kritiker dann darauf, zwischen einem realen Menschen und einer Romanfigur, die dazu auch noch unterschiedliche Namen haben, eine Identifikation herzustellen«, fragt Gstrein dann im Gespräch. »Wenn man mich nicht nur als bösen oder teuflischen Menschen sehen will, dann ist diese Widmung doch auch Ausdruck von größter Demut.«
Mit dem »Handwerk des Tötens« war dann aber auch Gstreins literarisches Verfahren ausgereizt. Schwer vorstellbar, wie sich mit einer Weiterentwicklung dieser abwägenden, sich relativierenden und kommentierenden Erzählhaltung überhaupt noch so etwas wie Handlung in Gang kriegen ließe. »Wenn ich die Skepsis hätte noch weitertreiben wollen, wäre nichts mehr sagbar gewesen.« So könnte der im letzten Jahr erschienene Roman »Die Winter im Süden« eine weitere Zäsur im Schreiben Norbert Gstreins markieren. Gstrein blendet darin vielstimmig das Kriegsende 1945, den Geist der Studentenbewegung1968 und den Zusammenbruch des Kommunismus Anfang der 1990er Jahre in- und übereinander, wiederum vor dem Hintergrund des Jugoslawien-Krieges, der noch einmal längst überwunden geglaubte ideologische Frontverläufe hervortreibt. So ist ein Roman entstanden, in dem nicht der Erzähler auf der Stelle tritt, sondern eine gespenstisch still stehende Zwischenkriegszeit bewusst wird. Ein Buch, das Norbert Gstrein gegen innere Widerstände begonnen habe, gegen seine poetologischen Überzeugungen.
Vor kurzem wurde Norbert Gstrein übrigens in seiner Hamburger Buchhandlung darauf angesprochen, warum er seine Bestellungen immer unter dem Namen Paul Weber aufgebe. Das habe zunächst einmal ganz praktische Gründe, sagt Gstrein. Niemand könne seinen Namen schreiben. Gewusst habe man in dieser Buchhandlung seit längerem, wer er wirklich sei, wie er an kleinen Zeichen habe bemerken können. Jetzt ist es aufgedeckt. »Schade um das schöne Spiel.« //
Ensuite – Literarische Werkschau Norbert Gstrein, vom 2. bis 4. Februar 2009 im Literaturhaus Köln, www.literaturhaus-koeln.de