TEXT: ANDREJ KLAHN
Dass es weh tun würde, war zu erwarten. Dass es am Ende dann aber doch noch existenziell werden könnte, wohl nicht. Denn es sollte ja keine »Auszeit« sein. Was aber dann? Der Form nach: eine »Wanderung«. Doch das klingt im 21. Jahrhundert zu klein für das, was Martin Prinz im Sommer 2008 unternimmt. 2.500 Kilometer kämpft sich der österreichische Schriftsteller im Temposchritt über und durch die Alpen, auf der Via Alpina, von Triest bis nach Monaco. Kein Ausstieg auf Zeit, sondern Auf- und Abstiege, um den Arbeitsalltag zu verändern, der sich, ganz unspektakulär, von dem zuhause nur dadurch unterscheiden sollte, »dass ich nun meine Wohnung samt Kleiderschrank, Küche, Schreibtisch mit mir trug. Jeden Tag woanders ankam, am Morgen oft noch nicht wusste, wo.« Von unterwegs will er die Leser des Standards in seinem Alpenblog auf dem Laufenden halten über den Fortgang des Unternehmens, ab und an mal eine Geschichte für die Beilage der Tageszeitung schreiben, auch mal ein Fernsehteam treffen und Be- obachtungen und Erfahrungen einsammeln für dieses Buch: »Über die Alpen«.
Anfang Mai macht sich Prinz auf den Weg, der ihn Ende September in einer veränderten Welt ankommen lässt, in deren Tiefebenen gerade die Investmentbank Lehmann Brothers Pleite gegangen ist. Noch bevor der erste Gipfel in Sichtweite auftaucht, stürzt Prinz das erste Mal ab. Während vor seiner Wiener Haustür schon das Taxi wartet, stolpert er schwerstbepackt über die Schnürsenkel seiner nicht zugebundenen Bergschuhe. So beginnt diese Reise mit kleinen Quetschungen und Abschürfungen an den Fingern. Hinführen soll sie aber zu den »Schmerzpunkten des heutigen Lebens«, die mit körperlichen Wehwehchen allerdings nichts zu tun haben. Sie liegen ganz woanders und machen sich überall dort bemerkbar, wo sich die alpine Kulturlandschaft in ein Sportgerät verwandelt. Denn in den Alpen, aber nicht nur dort, ist etwas Elementares dabei, zu verschwinden: Arbeit, die sich der Warenförmigkeit entzieht; Leben, das fest verbunden ist mit Ort, Zeit und Menschen. Das bäuerliche Leben. Das richtige Leben.
Leichte 60 Kilo Körpergewicht trägt Prinz mit sich herum. Der Rucksack, diese mobile Wohnung, wiegt fast halb so viel wie der durchtrainierte Mann, der ihn tragen muss. Zuhause wartet Sabine, noch Lebensgefährtin, von der Prinz sich getrennt fühlt, was mit Verlust nichts und mit der Reise also nur vordergründig zu tun hat. Nur das Kind in ihrem Bauch, dessen errechnete Geburt mit dem Ende der Tour zusammenfallen soll, hält ihn noch bei ihr. Prinz möchte keiner dieser Besuchsväter sein. Aber er möchte auch nicht mit einer Frau zusammenleben, die er nicht liebt. Diese Beziehungslast begleitet ihn durchs Gebirge; schwer wiegt auch die eigene alpinistische Familientradition. Schon den Großvater zog es nach oben, genauso wie dessen Sohn, Peter Gerfried Ganner, Prinz’ Onkel, der bei einer Mount Everest-Besteigung 2001 abgestürzt und gestorben war. Im Expeditionstagebuch Ganners tritt ihm eine »Maskerade« aus Notaten von Wetter, Distanzen und Schwierigkeiten entgegen. Welche Abgründe verbergen sich hinter diesen emotionslosen letzten Einträgen? Das ist die tiefenpsychologische Variante jener so nahe liegenden Frage, die Prinz mit sich trägt und die er in mehreren Anläufen zu beantworten versucht: Welche Sehnsucht zieht Menschen in den Berg?
Melanie Mühl hat darauf eine sehr einfache Antwort gefunden: »Eine Landschaft weckt tiefe Empfindungen, sobald sie zum Spiegel wird und uns etwas über uns selbst verrät. Das tun die Berge.« Weshalb die Feuilleton-Redakteurin der Frankfurter Allgemeinen Zeitung auch immer wieder nach oben zurückgekehrt ist. Glücklicherweise nicht, um sich dort selbst zu begegnen, sondern auf der Suche nach haltbaren Geschichten. Neun davon versammelt das schmale Buch »Menschen am Berg«. Während Martin Prinz den Wegesrand nach Belegen für das Schwinden einer Kulturlandschaft absucht und dabei für Menschen nur selten Zeit hat, sind es Gespräche, aufmerksame Beobachtungen und Begegnungen, aus denen die Reporterin ihre »Geschichten vom Leben ganz oben« entwickelt. Dabei vermag sie selbst dem beredten Schweigen derer etwas abzulauschen, die sich seit Generationen in der Höhe alternativlos und spartanisch eingerichtet haben, mit Gottvertrauen und Schicksalsergebenheit. So eine Geschichte beginnt dann auch schon mal so: »Auf Golzern leben drei Brüder in drei verschiedenen Häusern, sie heißen Sepp, Franz und Hans. Alle drei haben die gleichen blauen Augen, weit nach vorn geschoben in ihren Höhlen, und von einer solchen Zartheit, dass man sich nicht mehr abwenden mag von ihnen.«
Keine Straße führt nach Golzern, gelegen auf 1450 Metern Höhe im Schweizer Kanton Uri, nur ein »beschwerlicher Wanderweg« oder die Seilbahn. Doch der Wandel, dessen Spuren Prinz auf seinen Etappen hartnäckig verfolgt, hat auch dieses Dorf erfasst. Nicht trotz, sondern gerade wegen der Abgelegenheit. Die meisten der Häuser auf der Alp, so stellt Mühl fest, sind Ferienhäuser, »wie fallen gelassen über der einsamen Landschaft«. Viele der Einheimischen sind fortgezogen, weil sie nicht mehr daran glauben, der Natur dort oben Zukunft abtrotzen zu können. Auch Nadya, Sandra und Christian, »Bilderbuchkinder«, die ihre Eltern lieben und auf dem Berg nichts vermissen, werden, da ist sich Melanie Mühl ganz sicher, fortgehen. Wenn nicht, wäre es ein Wunder.
An Wunder glaubt der Glaziologe Martin Funk nicht. Melanie Mühl hat ihn in seinem cha-otisch unaufgeräumten Professoren-Büro an der Eidgenössischen Technischen Hochschule in Zürich besucht. Um sich von ihm bestätigen zu lassen, was uns in diesen klimagewandelten Zeit nicht überraschen kann: Die Alpen, wie wir sie kennen, wird es in hundert Jahren nicht mehr geben. »Wenn das Eis geht« heißt diese kleine Erkundung.
Vor dem Eis aber, so Martin Prinz, wird schon die Arbeit verschwunden sein. Anschaulich wird das schon jetzt in der zunehmenden Vervorstädterung der Berge. Was ähnlich dramatische Konsequenzen für diese Region haben könnte wie der Klimawandel. Denn die Alpen, die sich den Augen des Touristen heute als Naturraum darbieten, seien tatsächlich eine Kulturlandschaft, deren ökologisches Gleichgewicht heute weitaus stabiler ist als das der einst »unberührten« Naturlandschaft. Um es aufrecht zu erhalten, bedürfe es der Bewirtschaftung und Pflege durch die Einheimischen. Doch das rechne sich immer weniger. Mit der bäuerlichen Arbeit gingen dann auch ihre »lebendigen Bezüge« verloren und auch das Wissen, das sich aus Erfahrung speist. Was bleibt, ist sinnlose Freizeitbewirtschaftung, nicht zuletzt als Tourismusindustrie. So gerät alles aus der Balance: das ökologische Gleichgewicht genauso wie das Verhältnis von Stadt und Land, Arbeit und Freizeit.
Im Verlauf der 161 Tagesetappen wächst sich Prinz’ Befund vom Verschwinden der Kulturlandschaft »Alpen« zur grundsätzlichen Kultur-, ja Systemkritik aus. Nicht selten läuft er dabei Gefahr, das einfache, selbstgenügsame Leben der »Menschen am Berg«, das lebenslange aufeinander Angewiesensein der Paare zu romantisieren. Auch, weil ihm das eigene Leben immer fragwürdiger wird. Am Ende der Reise wird er sich von der Mutter seines Kindes endgültig getrennt und der Frau, in die er sich neu verliebt hat, schon nach kurzer Zeit einen Heiratsantrag gemacht machen. Und eine zweite Frage wird neben die nach der Sehnsucht nach dem Berg getreten sein: »Was bliebe ohne das Vaterwerden?« Sie hat das Schreiben des Buches von Anfang an geleitet und Prinz’ Rückblick für die Problematik der Hofübergabe und der Erbfolge sensibilisiert. So ist, was bloß eine »Veränderung des Arbeitsalltags« hätte sein sollen, eine Reise zu sich selbst geworden. Eine Expedition zum »Schmerzpunkt« nicht nur des heutigen, sondern vor allem auch des eigenen Lebens. Das ist keine kleine Entdeckung. Ohne sie wäre es streckenweise viel schwerer gewesen, Prinz »Über die Alpen« zu folgen.
Melanie Mühl, Menschen am Berg, Nagel & Kimche, München 2010, 128 S., 14,90 Euro.
Martin Prinz, Über die Alpen, C. Bertelsmann Verlag, München 2010, 461 Seiten, 22,95 Euro.