TEXT UND INTERVIEW: ULRICH DEUTER
Wir befinden uns in einem großen Sammler in der Kanalisation unter Frankfurt-Bockenheim. Über der Erde ist es frühlingshaft mild, aber hier unten herrscht eine angenehm vermoderte Atmosphäre. Heute ist ein besonderer Tag für Tom Stromberg, weswegen er sich extra die Perücke aufgesetzt hat, mit der er einige Jahre lang als »Eva Mattes« berühmt war. Denn auf den Tag genau vor 36 Jahren, fünf Monaten und drei Stunden haben Stromberg, Hannes Wader, Claus Peymann, Rainer Werner Fassbinder und Rudolf Bahro im Blasen werfenden Frankfurter Untergrund das Deutsche Freie Theater gegründet.
K.WEST: Herr Stromberg, was ist das für ein Gefühl, heute wieder an dem Ort zu knien, wo damals alles anfing?
STROMBERG: Das sind Ruinen. Das TAT ist geschlossen und wo ist Hilmar Hoffmann?
K.WEST: Sie und Ihre Mitverschwörer hatten sich damals zum Ziel gesetzt, das verfettete Stadttheatersystem mittels armer, qualitätsfreier Darstellungsspektakel zu ruinieren. Wenn Sie sich anschauen, dass das Theater in Nordrhein-Westfalen sich heute gerade mal eine einzige Karin Beier leisten kann, würden Sie dann den damals gefassten Plan als erfüllt ansehen?
STROMBERG: Und was ist mit Carp, Niermeyer, Weber, Moers und Dinslaken?
VON HARTZ (in der Einstiegsluke auftauchend): Wuppertal?
K.WEST: Wieso hat es nach Erfindung des Freien Theaters so lange, nämlich bis 1990, gedauert, bis das Festival Impulse gegründet wurde und warum wurde es nicht längst wieder abgeschafft?
STROMBERG: Der leider verstorbene Dietmar N. Schmidt (langjähriger Impulse-Chef; d. Red.) sowie Udo Balzer, Leiter der »Stücke«, langweilten sich im Stadttheater der 80er Jahre, da war die Erfindung von Impulse das Naheliegendste.
VON HARTZ: Irgendeiner langweilt sich ja immer, das kann man nicht abschaffen.
Ein paar Monate zuvor, im Frühwinter 2010. K.WEST begleitet Stromberg und v. Hartz auf ihrer beschwerlichen Recherche nach den besten anzunehmenden Off-Theatern. Es ist kalt, ein breiiger Regen fällt. Tom Stromberg hat sich unter einer Pelerine aus grünem Lodenstoff versteckt, in deren Saum »Eigentum des Deutschen Bühnenvereins« eingewebt ist. Matthias von Hartz trägt trotz der Witterung einen leicht taillierten mittelgrauen Anzug von Herr von Eden sowie Gummistiefel. Wir stapfen durch den unwegsamen Grenzwald zwischen Belgien und Österreich.
K.WEST: Herr von Hartz, Herr Stromberg: Warum arbeiten eigentlich so viele freie Theatergruppen im Grenzbereich? …
STROMBERG: Da ist die Luft dünner.
VON HARTZ: Man kann auf beiden Seiten die riesigen Fördergelder für freies Theater abzocken. Und man kann natürlich auch zur Not schneller abhauen, wenn wieder mal ein totalitäres Theater-Regime droht.
Mehrere Stunden vergehen, aber die beiden Impulse-Scouts können kein herausragendes Off-Theater entdecken. Langsam wird es dunkel.
K.WEST: Sie finden ja nichts!
Stromberg und von Hartz schweigen drohend.
K.WEST: Es gibt gar kein gutes Freies Theater!
Stromberg und von Hartz schweigen drohender.
K.WEST: Da Sie so offensichtlich kein gutes Freies Theater finden, lassen Sie uns die Gelegenheit nutzen und eine theaterästhetische Debatte führen. Man sagt, Freies Theater sei vor allem körperbetont und basiere auf Selbsterfahrung. Was bedeutet dies?
VON HARTZ: Mein dreijähriger Sohn hat neulich so was Ähnliches gesagt. Ich frage ihn nochmal.
STROMBERG: Ungefähr das! (haut zu)
K.WEST: Au! Sie sind gemein. Jetzt helfen Sie mir wenigstens wieder aufstehen.
Nach einer sechsstündigen Wanderung kommen wir im Rabtal an, in der Oststeiermark. Durchfroren und von theaterästhetischen Auseinandersetzungen zerkratzt, wanken wir in eine Scheune, in der gerade ein Heimatabend begonnen hat. Auf einer improvisierten Bühne stehen fünf Frauen und demonstrieren ihr oststeiermärkisches Lebensgefühl. Von Hartz tut so, als müsse er dringend mit dem Burgtheater telefonieren.
VON HARTZ: Tom, ich glaube wir brauchen eine App fürs Festival, sonst rutscht das alles ab.
Am nächsten Morgen:
K.WEST: Herr Stromberg, wieso schlafen Sie so oft im Theater?
STROMBERG: Als Kind wurde mir immer eingebläut: Du darfst bis 20 Uhr aufbleiben. Um 20 Uhr wird das Licht ausgemacht und du schläfst. Heute komme ich ins Theater um 20 Uhr… So eine Art Theaternarkolepsie.
VON HARTZ: Meine Hauptverantwortlichkeit in unserer gemeinsamen Arbeit ist aufzupassen, dass Stromberg nicht zu laut schnarcht. Mittlerweile kann ich das im Schlaf.
K.WEST: Was hat Sie gestern Abend bewogen, die Freie Theatergruppe Rabtaldirndln so spontan fürs Festival Impulse einzuladen?
STROMBERG: Es gab was zu essen und Schnaps und die Mädels sind für mich die She She Pops der Herzen. Die sind doch toll.
VON HARTZ: Und wir konnten alle Minderheitenquoten mit einem Schlag abdecken. Wunderbar!
K.WEST: Viele mögen das Freie Theater nicht, aber gehen dennoch hin, weil es da schon mal eher was zu – naja, zu sehen gibt. Sie wissen schon… Kommt man da … auch diesmal … so auf seine Kosten, häh?
STROMBERG: Erotik pur, na klar. Die Väter von den She She Pop-Darstellerinnen in Feinripp.
K.WEST: Super!
VON HARTZ: Und deutsche Bürokraten völlig bar jeder Art von Charisma in »tagfish« von BERLIN, da geht’s so richtig ab.
Einige Wochen später, Heiligabend 2010. Da das Festival Impulse Freie Theatergruppen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz einlädt, befinden wir uns in der Produktionsstätte WP Zimmer in Antwerpen. Während draußen die Menschen friedlich Weihnachten feiern, steigen und springen hier drinnen mehrere Männer mit Cowboy-Hüten auf einem Luftsack herum, als bekämpften sie ihn. Schließlich versuchen sie, den Sack zu betanzen.
K.WEST: Normal ist das aber nicht!
STROMBERG: Das sind halt Cowboys.
VON HARTZ: Was soll man denn heute sonst noch machen im Freien Theater? Wenn schon Stadttheater-Intendanten dafür zum Theatertreffen eingeladen werden, dass sie ihre zehn Jahre jüngeren Hausregisseure aus der freien Szene kopieren –
Die Airbag-Cowboys von »The Host« werden noch vor Schluss der Vorstellung zu den Impulsen eingeladen, nun ist das Theater verlassen und dunkel, von draußen hört man »White Christmas« und »Jingle Bells« hereinwehen. Im Gegenlicht in der Tür steht ein Mann in einem grauen Kittel, drischt immer wieder klirrend mit einem Schlüsselbund in die Handfläche und blafft: »Ik sluit nu!«
K.WEST: Die Impulse laden traditionell Theaterproduktionen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz ein. »Conte d’Amour«, »Tagfish« und »The Host« stammen aus Skandinavien, Belgien, Amerika. Mit welchen Mitteln haben Sie ihre Auftraggeber davon überzeugen können, dass diese Länder deutschsprachig sind?
STROMBERG: Aus Mitteln des Goethe Instituts.
K.WEST: Zu den letzten Impulsen, 2009, haben Sie echte Neger eingeflogen. Wird es auch diesmal etwas eingeflogenes Echtes geben?
STROMBERG: Inder.
VON HARTZ: Und Zuschauer.
K.WEST: Wir wissen, dass Sie zwei der eingeladenen Gruppen »voll krass«, wie Sie sich ausdrücken, zwei andere dagegen »voll scheiße« finden. Welche, dürfen Sie nicht sagen, weil man Ihnen sonst den Dienst-Ferrari wegnimmt. Daher an Sie die verdeckte Frage: Welche der eingeladenen neun Produktionen des regulären Festival-Programms ist so was von?
STROMBERG: »Testament« von She She Pop ist zum Heulen, Anna Mendelssohn heult selber und HGich.T ist zum Kotzen.
VON HARTZ: HGich.T ist zum Tanzen.
K.WEST: Herr Stromberg, Sie sind als passionierter Angler bekannt, der das Aufspüren von Talenten gern mit dem Fangen von Fischen vergleicht. Nach dem Herausangeln wird Fischen in der Regel auf den Kopf gehauen und sie werden ausgenommen. Erledigen Sie bei den Freien Theatergruppen diesen Teil des Jobs ebenfalls selbst?
STROMBERG: Ich lasse alle wieder vom Haken. Das nennt man in der Anglerfachsprache »Catch and Release«.
VON HARTZ: Nicht allen ist das allerdings in der Vergangenheit gut bekommen. Ich glaube, du hättest mehr von denen auf den Kopf hauen sollen.
K.WEST: Die Impulse vergeben jedes Mal zahlreiche Preise: den Preis des Bloß-kein-Goethe!-Instituts; den Dietmar »N« Schmidt-Preis; den Claus P. Eymann-Preis für Selbstdarstellung; den Edith-Clever-Preis für einen Theaterabend, an dem das Wort ficken nicht vorkommt (noch nie vergeben); den Heinrich von Kleinst-Preis sowie weitere 41 Preise, darunter sogar einen Preis mit Namen Impulse-Preis. Was muss ein eingeladenes Freies Theater tun, um preisfrei davonzukommen?
STROMBERG: Jeder kriegt ’nen Preis.
VON HARTZ: Ich nicht!
K.WEST: In der Programm-Ankündigung heißt es: »20 Jahre Theater Festival Impulse in NRW«. Das Festival wurde 1990 gegründet. Meine Herren, wenn Sie mal von da auf heute zählen, wie viele Finger braucht man?
STROMBERG: Zwanzig. Da 2010 kein Festival war, feiern wir 2011 20-Jähriges. Dafür feiern wir dann 2021 30-Jähriges.
VON HARTZ: Da zahlt es sich aus, dass wir zwei künstlerische Leiter sind: Tom und ich haben gemeinsam unsere Zehen gezählt: Zwanzig, mehr ging nicht.
K.WEST: Herr Stromberg, Herr von Hartz, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.
STROMBERG: Bitte! (haut wieder zu)
K.WEST: Au!
Festival Impulse: 29. Juni bis 10. Juli 2011 in Bochum, Düsseldorf, Köln und Mülheim an der Ruhr. Gezeigt werden neun herausragende Theaterproduktionen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz im Wettbewerb:
The Host von Andros Zins-Browne
Conte d’Amour von Institutet und Nya Rampen
Tagfish von BERLIN
Endzeit 2 von HGIch.T
Testament von She She Pop
Cry Me A River von Anna Mendelssohn
Aufplatzen von Rabtaldirndln
Trans-Europa-Bollywood von God’s Entertainment
Ars moriendi von CapriConnection/Schola Cantorum Basiliensis
Dazu kommen vier Special Guests
www.festivalimpulse.de/festival. Dort gibt es auch eine kostenlose Festival-App.