TEXT: STEFANIE STADEL
Suzako ist gelandet. Nein, nicht zwischen den Seiten der berühmten Manga-Serie »Fushigi Yugi«, auch nicht in den zugehörigen Zeichentrickfilmen. Der Vogelgott mit den riesigen rot-gefiederten Schwingen verweilt vor dem weißen Tor einer Doppelgarage in Ulm. Die Nachbarn müssen ganz schön gestaunt haben beim Blick aus dem Fenster.
So ungewöhnlich wie vielleicht vermutet sind solche Phänomene allerdings gar nicht. Oliver Siebert machte überall auf der Welt ähnliche Beobachtungen: Sah den kämpferischen Surutobi Asuwa vor der Reihenhausfassade in Osaka, die süße Rabi en Rose neben der Couchgarnitur in Toronto, Sailor Chibi Moon mit den putzigen Hasenöhrchen in einer Potsdamer Grünanlage.
Für seine Foto-Serie »Character Thiefs« hat er sie alle abgelichtet. Junge Leute, die sich auch außerhalb der Session in fremde Schale schmeißen. Die im Gewand der liebsten Helden aus Manga und Anime, den japanischen Comics und Trickfilmen, vielleicht sogar auf Identitätssuche gehen. Mit karnevalistischer Heiterkeit hat das natürlich nichts zu tun. Eher liegt etwas wie Melancholie über Sieberts aberwitzigen Inszenierungen der phantastisch herausgeputzten Modelle in einer ach so alltäglichen Umgebung. Manchmal scheint es, als seien die Kostümierten, zumindest für den Moment, abgetaucht in ein fernes Universum.
Es ist eine Welt für sich – bunt, schrill, laut. Nostalgisch oder utopisch, zuckersüß oder hammerhart, extrem kitschig oder das reinste Grauen. Mit Kostümen, Plastikpuppen, Plüschtieren – inzwischen regiert die Marketingmaschine alle Produktionsfelder. Es geht so weit, dass bei der Erfindung neuer Akteure auch die Spielwarenindustrie mitredet: ästhetische Vorgaben macht, damit sich die frischgebackenen Helden später optimal ins Spielzeug-Sortiment einfügen mögen.
Alles wird in der Bonner Bundeskunsthalle aufgefahren – bunt gemischt, informativ, dabei äußerst unterhaltsam angerichtet. Bewegte Bilder fluten in Endlosschleifen über die Wände. Für die Anime-inspirierten Computerspiele wurden Nintendo-Tische eingerichtet. Gemalte Hintergründe und unzählige Cels – originale Folienbilder – belegen die traditionelle Produktionsweise, bevor der Computer die Oberhand gewann. Und zwei in den Rundgang integrierte Vorführungssäle zeigen prominente Beispiele aus der riesigen Anime-Produktion komplett.
In dem mit einem Haufen kuscheliger Kissen auf gemütlich getrimmten Kinder-Kino leben die 70er auf. Als Anime-Akteure mit Macht deutsche Bildschirme eroberten – allerdings zunächst oft unerkannt blieben. Einem rothaarigen Wikingerjungen oder dem kernigen Alm-Öhi sieht man die fernöstliche Herkunft nicht auf den ersten Blick an. Doch verdanken Wickie, Heidi, Biene Maja ebenso wie Pinocchio und Nils Holgersson ihre Zeichentrick-Existenz der Kooperation zwischen dem ZDF und japanischen Studios.
Bei dem deutschen Sender waren es wohl zuerst wirtschaftliche Überlegungen, die in die erfahrenen Studios nach Japan führten, wo bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts erste animierte Kurzfilme gedreht worden waren. Die kleinen Helden halfen nun dabei, Anime den Weg auf internationale Märkte zu bahnen.
Die Bundeskunsthalle rückt dieses Kinder-Kapitel in ruckeligen Bildern groß und weit nach vorn. Vielleicht ist es nicht das spannendste. Dafür eignet es sich gut, auch den Anime-fernen Besucher über gute alte Kinderstunden-Erinnerungen für das Thema zu interessieren. Im weiteren Verlauf des quirligen Bonner Parcours kann man zusehen, wie mit dem Genre in den folgenden Jahrzehnten auch sein Publikum wuchs. Dies nicht zuletzt dank des berühmten Ghibli-Studios mit hohem Qualitätsanspruch und prominenten Produktionen wie Prinzessin Mononoke – in Deutschland erstmals zu sehen bei der Berlinale 1998. Die sorgfältig ausgearbeiteten Zeichnungen und der abgehobene, aber anspruchsvolle Plot halfen dem japanischen Animationsfilm, endgültig sein Kinder-Image zu überwinden.
Heute ist Anime ein echter Wirtschaftsfaktor in Japan. Woche für Woche verlassen um die 40 Serienteile die Studios, hinzu kommen rund 20 Kinofilme im Jahr, ganz zu schweigen von der Flut an Fan-Artikeln. Junge Mädchen erfreuen sich an sexy herausgeputzten Heldinnen mit riesigen Glitzeraugen, die in den »Shojo Anime« mit reichlich Girlpower und heißen Uniformen antreten, die Welt zu retten. Jungs werden dagegen mit derbem Humor und Action geködert. Mit harten Kerls, die sich im Kampf gegen Monster oder finstere Mächte bewähren.
Mystery, Fantasy und Science-Fiction bieten dem erwachsenen Zuschauer die »Seinen Anime«. Auch eine erotische Sparte gibt es – die Bonner Ausstellung hat für das umsatzstarke Sex-Genre eigens ein rosarotes Flokati-Séparée eingerichtet und schwere Klappen vor die Gucklöcher gehängt.
Übernommen wurde die Schau aus dem Frankfurter Filmmuseum, wo sie bereits 2008 zu sehen war, allerdings aus Platzgründen sehr viel kleiner ausfiel. Bonn geht das Thema nun in ganzer Breite an, ergänzt um jene Fotos von Oliver Siebert sowie Gemälde von Amano Yoshitaka, der die Figurensprache von Manga und Anime in seine großformatige Malerei auf Aluminium transportiert – allerdings auf nicht sonderlich inspirierte Weise: In isolierten Gesichtern und Gesten scheint der ohnehin schon übersteigerte Ausdruck nur potenziert.
Neu und durchaus stimmig das Finale der Bonner Schau – ohne große Mühe gelingt es da, Brücken ins Jahr 2011 zu schlagen. Die Furcht vor Erdbeben und anderen Naturka-tastrophen sitzt den Japanern, allein wegen der geografischen Lage des Landes, ständig im Nacken. Ebenso wie die Erfahrung von Hiroshima und Nagasaki grub sie sich unübersehbar ein in die Bildkultur.
Man denkt an Hokusai, der bereits 1829 seine große Tsunami-Welle in Holz schnitt und damit wohl das bis heute berühmteste japanische Kunstwerk schuf. Man erinnert sich an Nakazawa Keiji und sein 1973 verfasstes, später verfilmtes Manga »Barfuß durch Hiroshima«. Auch an Miyazaki Hayao, dessen Film »Ponyo – Das große Abenteuer am Meer« von 2008 in der Bundeskunsthalle mit einer Prophezeiung verglichen wird. Beschreibt er doch den Kampf eines Jungen gegen die drohende Überschwemmung seines Heimatortes durch das unheilvolle Wirken des Meereszauberers Fujimoto. Soweit der Rückblick. Wie der Super-Gau von Fukushima wohl in Manga und Anime weiterwirken wird? Die kommenden Jahre werden es zeigen.
Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland, Bonn; bis 8. Januar 2012; Tel. 0228/9171 200. www.bundeskunsthalle.de