INTERVIEW: ANDREJ KLAHN
K.WEST: »Was das Gedicht alles kann: Alles«, hat Robert Gernhardt einmal behauptet. Was kann das Gedicht Ihrer Meinung nach?
BUCHWALD: Zuallererst: ein Gedicht verdichtet. Wenn man dasselbe auch in einer Erzählung, einem Leitartikel oder in einer Rede sagen könnte, ist das Gedicht überflüssig. Das Gedicht »kann« etwas, das andere literarische Genres nicht können, es hat Möglichkeiten, die andere Genres nicht haben. Es verdichtet in wenigen Zeilen und durch die Kombination von Wörtern etwas, das »hinter« und »zwischen« den Wörtern steht. Es schafft assoziativ überraschende Bedeutungen und Einsichten. Je kunstvoller es ist, je mehr Schichten das Gedicht hat, desto mehr wird sein »Brühwürfelcharakter« deutlich. Sobald man Wasser darüber gießt und die Suppe Löffel für Löffel zu sich nimmt, entfaltet sich eine ganze Welt von Aromen.
K.WEST: Es wird immer behauptet, die deutsche Lyrik sei so vielfältig und lebendig wie lange nicht mehr. Doch in den größeren Verlagen er-scheinen immer weniger Lyrikbände. Vitale Szene einerseits, zusammenbrechende Infrastruktur andererseits, wie geht das zusammen?
BUCHWALD: Die Wahrnehmung von Lyrik hat sich verlagert. Lyrik-Interessierte sind heute kaum mehr bereit, einen Gedichtband zu kaufen. Sie wollen die Performance, das vorgetragene, das inszenierte Gedicht, dessen Bedeutungen sich schon beim bloßen Hören erschließen. Voller Saal, begeistertes Publikum, aber nur drei Gedichtbände verkauft, brummt der Buchhändler verdrossen.
K.WEST: Dichtet es sich ungenierter, wenn die Aussicht, in einem Aufmerksamkeit bündelnden Verlag zu erscheinen, kaum mehr besteht?
BUCHWALD: Nicht nur die Publikation, auch die Rezension, die Auseinandersetzung mit Gedichten ist zu großen Teilen ins Netz abgewandert, und in diesem Medium passiert erstaunlich viel. Die Tendenz hat einer-seits, wenn man so will, etwas Demokratisches, andererseits ist es mir auch unheimlich, weil die Qualitätskontrolle durch den Verlag oder den Zeitschriftenredakteur fehlt. Und: Ein Gedicht, das mehr ist als in Zeilen gebrochene Banalitäten, fragt danach, in Ruhe und mehrmals gelesen zu werden. Und das tut man eher auf Papier.
K.WEST: Hat diese Verlagerung ins Internet Einfluss auf die Form der Gedichte?
BUCHWALD: Es hat insofern Einfluss, als auch die Achtel-, Viertel- und Halbfabrikate per Knopfdruck hemmungsloser in die Welt versendet werden. Ich werde den Eindruck nicht los, dass Banalität und geschraubter Unsinn auf dem Papier deutlicher und peinlicher sichtbar werden als auf dem Schirm. Aber wissenschaftlich beweisbar ist das nicht….
K.WEST: Urs Engeler, der vor zwei Jahren seinen Lyrik-Verlag Urs Engeler-Editor geschlossen hat, hat mit Blick auf das schrumpfende Publikum behauptet, in den letzten 15 Jahren sei Dummheit gesellschaftlich salonfähig geworden. Man solle sich also nicht wundern, dass die gesellschaftliche Relevanz von Gedichten gegen Null strebe. Denn: Sie wolle gegen Null streben. Ist es tatsächlich so, dass zeitgenössische Lyrik auf den öffentlichen Resonanzraum verzichten will und kann?
BUCHWALD: Das ist eine mir zu hochmütige Betrachtung. Und zudem: Was ist gesellschaftliche Relevanz? Darüber sind sich schon die Dichter der Antike in die Haare gefahren. Für das von einem jährlich wechselnden Dichter und von mir herausgegebene »Jahrbuch der Lyrik« lese ich in jedem Jahr mehrere tausend Gedichte. Es sind, platt oder nicht, fast immer Echos auf unsere Gegenwart. Das Gesellschaftliche ist anwesend, und sei es als Abkehr vom Gesellschaftlichen, als Absetzbewegung ins Private.
K.WEST: »Was die Poesie heute von der mancher früherer Zeiten unterscheidet, ist ihre Möglichkeit, sich keinem Sujet zu verschließen«, behauptet Jürgen Brocan im aktuellen »Jahrbuch der Lyrik«. Ist das der kleinste gemeinsame Nenner, auf den sich Lyrik im Jahr 2011 bringen lässt?
BUCHWALD: Das ist in seiner Allgemeinheit sicher zutreffend. Wenn man einen größeren Zeitraum zu überschauen versucht, fällt unter anderem auf, dass die politisch-ideologischen Gedichte vollkommen verschwunden sind, dito die Gedichte gegen Waldsterben, Fußgängerzone und Atomkraft. Dass die Lyrik nicht leitartikelt und predigt, halte ich für einen Fortschritt. Das Misstrauen gegen die »schweren« Begriffe unserer Großeltern (Liebe, Gott, Vaterland) ist groß. Heute spiegeln Lyriker ihre Zeit und Welt eher in der Beschreibung zwischenmenschlicher Beziehungen, im Umgang mit Natur, in Geschichte oder Erinnerung.
K.WEST: Zum Lyrik-Wochenende nach Düsseldorf eingeladenen sind: Michael Krüger, Durs Grünbein, Oswald Egger, Lutz Seiler, Esther Kinsky, Barbara Köhler, Ann Cotten. Das sind klingende Namen. Stehen diese Namen für das breite Spektrum der gegenwärtigen Lyrik-Produktion?
BUCHWALD: Jein. Wenn wir tatsächlich das ganze Spektrum der Gegenwartslyrik hätten zeigen wollen, bräuchte es ein Festival von einer Woche. Die kommunalen Sponsoren erwarten, dass man ihr Geld effektiv einsetzt, d.h. dass man ein zugkräftiges Programm mit klingenden Namen auf die Beine stellt. Das ist von der Idee her etwas ganz anderes als z.B. das Lyrikfestival in Münster, wo immer auch die Entdeckung von Talenten auf dem Programm steht. Es geht in Düsseldorf darum, ein möglichst großes Publikum zur Begegnung mit Gedichten, mit Lyrik einzuladen – und das geht nun mal einfacher, wenn auf dem Plakat bekannte Namen stehen. Da unterscheidet sich die Lyrik nicht von der Pop-Musik.
K.WEST: Wenn Sie einen Lyrik-Band der letzten Jahre nennen müssten, der sie besonders glücklich gemacht hat, welcher ist das?
BUCHWALD: »Pech und Blende« von Lutz Seiler. Seiler gelingt es in diesem Band, auf wenigen Seiten eine ganze Epoche, seine Kindheit und Jugend in der DDR, sichtbar, spürbar, hörbar zu machen, Zeitgeschichte auf faszinierend eindrückliche Art und Weise zu verdichten, ohne dass wir als Leser einen Decodierungsapparat brauchen.
K.WEST: Im Jubiläumsband des von Ihnen herausgegebenen Jahrbuchs schreibt Norbert Hummelt: »Dichtung ist Lichttherapie, auch wenn sie dunkel ist.« Ein gutes Schlusswort?
BUCHWALD: Klingt gut. Wenn Dichtung etwas formuliert, das zu denken, zu fühlen oder zu sagen wir uns vorher nicht trauten oder nicht in der Lage waren, dann wird es hell im Kopf. Wenn ein Gedicht etwas auf den Begriff oder ins Bild bringt, dass wir als Leser denken: Genau so habe ich es gespürt, gedacht, gesehen, aber nie ausdrücken können – dann drucken wir es uns aus oder legen ein Lesezeichen in den Band. Dann macht Lyrik reich.
Poesie – Ein Fest im Heine Haus, 23. bis 25. September 2011
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