Überall Fische. Auffällig viele Autos mit einem stilisierten Fisch am Heck parken in diesem Düsseldorfer Viertel – ausgerechnet beim »Pescador«. Aber mit dem maritimen Restaurant haben die Insassen der fischverzierten Autos nichts im Sinn, sie streben zu einem großen Haus am anderen Ende desselben Blocks. Mit seiner gerundeten Ecke erinnert es an die Bauten Erich Mendelsohns; tatsächlich entstand es in den 50er Jahren als Kino. Der letzte Film ist aber längst gelaufen. »JESUS-HAUS« steht jetzt in großen Lettern an der Fassade. Und wo Jesus, wo das Christus-Akronym »Ichthys« (Fisch) draufsteht, da sind besonders engagierte Christen drin – Gemeinden, die derzeit viel Beachtung finden, weil sie eine neue Frömmigkeit repräsentieren, weil sie bessere Menschenfischer sind als die großen Kirchen. Überdies haben sie auf irritierende Weise mit Amerika zu tun, mit radikalen Fundamentalisten, mit TV-Predigern und mit Politikern, die sich als »wiedergeboren« bezeichnen. 1,3 Millionen »Evangelikale« soll es in Deutschland geben – Tendenz steigend.
Der Kinosaal im zweiten Stock zeigt seine lichtspielerische Vergangenheit nur noch durch den ansteigenden Boden. Die Gemeinde hat den Raum hell gestalten lassen, mit Fenstern und modernen Stühlen. Auf der Bühne steht links ein großes Holzkreuz. In der Mitte ein Rednerpult. Dahinter machen sich junge Leute an Instrumenten, Mikrofonen und Verstärkern zu schaffen. Im Saal Menschen jeden Alters. Viele Jugendliche, Kinder. Wenige haben sich fein gemacht; die meisten sind leger. Man begrüßt einander herzlich, oft mit Umarmung. Auch der fremde Besucher wird willkommen geheißen. Vorn beim Pult sieht man einen schlanken Mittvierziger mit Anzug und Krawat- te, er scheint wichtig zu sein. Doch erst einmal spielen Punkt halb zehn die jungen Leute ihre Version eines Introitus: gospelig, eingängig, rockig – und laut.
Die Sitzreihen füllen sich. Schließlich geht der Mann im Anzug ans Pult: Pastor Klaus-Dieter Passon. »Ihr Lieben«, nennt er die Versammelten, spricht einleitende Worte, zitiert eine Bibelstelle, gratuliert Geburtstagskindern. Sagt »Halleluja« zwischendurch und »Amén«, mit Betonung auf der zweiten Silbe, manchmal »Amén??« als Einladung zu gemeindlichem Respons. »Super!« sagt er auch, und weil er dabei ein Mikrofon in der einen Hand hält und sein anderer Arm fast borisbeckerhaft vorschnellt, fühlt man sich an einen TVModerator erinnert oder einen Motivator beim Betriebsfest. Dann rockt es wieder los: »My redeemer lives!« Alle Lieder handeln von Jesus. Die Musik ist nicht bloß gut gemeint, sondern gut gemacht. Texte werden an die Wand gebeamt; für Liederbücher hätten die Menschen kaum Verwendung: Alle sind aufgestanden, viele wiegen sich im Takt, breiten beide Arme aus, mit den Handflächen nach oben, oder winken mit einer Hand. Die langen Lieder gehen bruchlos ineinander über, 20, 30 Minuten lang. Gottesdienstliche Andacht kennt man anders, aber gerade einige ältere Frauen gehen mit und halten keineswegs gequält die Ohren zu.
Alles amerikanischer Import – so, wie der Reformationstag vom Halloween-Humbug ausgestochen wurde? Die Formel »evangelikal statt evangelisch« scheint das anzudeuten. Tatsächlich wurde der Begriff »evangelikal« aus den USA importiert, weil die schlichte deutsche Übersetzung »evangelisch« hierzulande Synonym für die lutherisch-reformiert-unierten Landeskirchen ist. So weit, so einfach. Im Übrigen ist die neue christliche Religiosität »ein weites Feld, in dem alles ineinander verschwimmt«, sagt Hansjörg Hemminger, Beauftragter für Weltanschauungsfragen der Evangelischen Landeskirche in Württemberg, wo es eine lange Tradition evangelikaler Bewegungen avant la lettre gibt. Sie sind bibeltreu und leiten ihren Glauben allein aus der Schrift her. Deren Text gilt mindestens als unmittelbar von Gott inspiriert; ob er wörtlich auszulegen und völlig ohne Irrtum ist, wird unterschiedlich gesehen. Evangelikaler Christ wird man nicht qua Tradition, sondern durch persönliche Entscheidung im Rahmen eines Bekehrungs- oder Erweckungserlebnisses, einer »geistigen Wiedergeburt«, die nichts mit Reinkarnation zu tun hat. Gott greift unmittelbar in das Leben der Menschen ein, und man hat eine direkte Beziehung zu Ihm. Evangelikale pflegen das allgemeine Priestertum der Laien und die Mission. Pfingstlerische und charismatische Gemeinden betonen dazu die unmittelbare Wirkung des Heiligen Geistes, die sich in den »Charismen« zeigt – in Heilungen, Zungenreden und ekstatischen Erfahrungen. Meist werden Pfingstler und Charismatiker zur evangelikalen Bewegung gerechnet. Der Umstand, daß es eine charismatische Bewegung auch in der katholischen Kirche gibt, zeigt indes die Schwierigkeit beim Einordnen der Strömungen, die sich auch innerhalb der großen Kirchen finden, zumeist aber in den protestantischen Freikirchen und einer wachsenden Zahl unabhängiger Gemeinden. Insofern, sagt Experte Hemminger, sei die oft zitierte Zahl von 1,3 Millionen Evangelikalen in Deutschland nur eine realistische Schätzung.
Die Wurzeln solcher »erwecklicher« Bewegungen sind alt – und europäisch. Schon die Pietisten, unter anderem in Württemberg, im Wuppertal und in Mülheim an der Ruhr (Gerhard Tersteegen, 1697 – 1769, »Ich bete an die Macht der Liebe«) wollten auf ähnliche Art zurück zu den christlichen Wurzeln. In Mülheim entstand vor 100 Jahren auch die erste deutsche Pfingstgemeinde. Vor allem mit angelsächsischen Auswanderern kamen Erweckungsbewegungen nach Nordamerika, wo sie neue Erscheinungsformen ausbildeten. In dieser Gestalt kommen sie seit den 50er Jahren missionierend nach Europa zurück; 1954 ratterte zum ersten Mal das »Maschinengewehr Gottes« in deutschen Stadien: Billy Graham. Weit mehr als in Europa allerdings finden Erweckungsbewegungen in Afrika, Asien und Lateinamerika Gehör, weil ihr intensives Gemeindeleben und ihre ekstatische Frömmigkeit der Mentalität dort entgegenkommen. Weltweit den größten Zuwachs haben Pfingstler-Charismatiker.
Auch das Jesus-Haus ist pfingstlich-charismatisch. Seine Wurzeln liegen in Ostpreußen, einem frühen Zentrum der Pfingstbewegung. Nach dem Zweiten Weltkrieg gründeten Flüchtlinge die Gemeinde in Düsseldorf. Ende der 60er Jahre, erzählt Pastor Passon, zogen die Pfingstler missionierend in die Drogenzentren der Altstadt. Das fanden junge Leute so »mind-blowing«, dass sie sich anschlossen. Die Gemeinde wuchs, nahm Züge der Jesus People-Bewegung an und knüpfte Beziehungen zur charismatischen Bewegung in den USA. 1976 zog sie aus ihrem Hinterhof-Quartier ins ehemalige Kino. Damals stieß Klaus-Dieter Passon dazu. Zuvor, sagt er, habe er sich in Mao-Bibel- Exegese versucht und mit Buddhismus beschäftigt, »aber das war es nicht.« Durch einen Freund sei er in die Gemeinde gekommen, habe zum ersten Mal bewusst gebetet – und in »tiefem persönlichen Erleben « die Antwort Gottes gespürt. Nach dem Studium der Germanistik und Philosophie arbeitete Passon im Jesus-Haus; 1990 wurde er ordiniert durch den Bund Freikirchlicher Pfingstgemeinden (BFP). Wenn Pastor Passon nach der Musik schließlich predigt, kann das schon mal eine dreiviertel Stunde dauern, da liegt er ganz in der wortbetonten protestantischen Tradition. Zwar murmeln Eifrige wieder bekräftigende »Amén«, doch ein paar Jugendliche spielen schon mit ihren Handys. Ganz anders wird der Gottesdienst wieder, wenn Laien nach vorn kommen und von ihren Erlebnissen berichten. Eine Frau spricht etwas konfus vom Besuch bei einem kranken Baby, dann von einem großen Fenster, das ihr beim Putzen mit großem Knall zersprungen sei: Teufelswerk, zweifellos, doch sei sie unverletzt geblieben: wunderbar. Gott sei Dank. Die Gemeinde soll für das Baby beten. Dann erklimmt ein etwas zerzauster junger Mann die Bühne, Sozialhilfe-Empfänger, und berichtet strahlend, wie er zum ersten Mal »den Zehnten« an die Gemeinde entrichtet habe und kurz darauf ein positiver Wohngeld-Bescheid eingetroffen sei: »Das dauert sonst Wochen. « Der Zusammenhang ist klar. Herzlicher Beifall. »Optimismus«, sagt Beobachter Hemminger spontan auf die Frage, was die freikirchlich-erwecklichen Gemeinden vor den Großen auszeichne. Pastor Passon nennt es »Hoffnung« oder »Zuversicht«. »Das ist kein leerer Optimismus, wir sind nicht einfach Leute, die dauernd gut drauf sind.« Die Hoffnung liege in der Frohen Botschaft: »Wir schämen uns nicht, trotz Aufklärung von Jesus, vom lebendigen Gott zu sprechen.« Und ihre Frohbotschaft sei keine »Drohbotschaft«; niemand müsse sich klein machen vor Gott: »Man muss den Leuten nicht dauernd sagen, dass sie schlecht sind.« Im Jesus-Haus kann jeder sich angenommen fühlen und hat die Gewissheit, dass Gott kein fernes, diffuses Etwas sei, sondern ein Kümmerer, den man ansprechen kann, der antwortet. Diese Unbefangenheit hat Charme, verglichen mit manchem Versuch, Gott zu rationalisieren oder mit esoterischem Geraune zu umwölken.
Eines macht Pastor Passon vorsichtig, wenn er als Evangelikaler angesprochen wird, und seine Reaktion ist typisch. Der Vorbehalt hat einen Namen: George W. Bush. Das Interesse der Medien an Evangelikalen hat viel damit zu tun, dass dieser Präsident Religiosität noch mehr zur Schau stellt, als dies in den USA ohnehin üblich ist, und dass er sich so offensichtlich mit Vertretern der fundamentalistisch-religiösen Rechten umgibt. In dieser Ecke möchten Passon und viele andere Evangelikale nicht stehen – weitgehend zu Recht, wie Beobachter der etablierten Kirchen zugestehen: religiös-politischer Fundamentalismus spiele in Deutschland eine geringe Rolle. Es gibt eine Partei, »die jemand aus der Pfingstbewegung gegründet hat«, sagt Klaus-Dieter Passon und bestätigt, dass die »Partei Bibeltreuer Christen (PBC)« im Jesushaus getagt hat. Dem winzigen Grüppchen zollt er freundlichen Respekt, mehr nicht. Er gebe keine Wahlempfehlungen, die Gemeinde bete für alle Politiker in Verantwortung.“ Gut 200 Mitglieder hat das Jesus-Haus, mit Kindern, Jugendlichen und Besuchern füllen an guten Sonntagen etwa 350 Menschen den Kinosaal. »Zurückhaltendes Wachstum« konstatiert der Pastor. Bei Millionen Areligiöser in Deutschland gebe es für die Mission viel zu tun, sagt er; Angehörige anderer Kirchen seien nicht im Visier der Gemeinde: Wer woanders seine christliche Heimat habe, »den wollen wir nicht wegholen«. Hansjörg Hemminger von der württembergischen Landeskirche bestätigt: Der große Transfer von evangelisch zu evangelikal finde nicht statt. Allerdings: Die, die gehen, »das sind oft die Besten«, sagt er bekümmert.“ Die Landeskirchen zeigen sich zunehmend dialogbereit gegenüber den Freikirchen und der dort praktizierten Frömmigkeit. Das gilt allerdings vornehmlich für jene Freikirchen, die ihrerseits schon zu den etablierteren gehören und sich, wie auch das Düsseldorfer Jesushaus, in lockeren Verbänden zusammengeschlossen haben. Mit der wachsenden Zahl neuer, völlig ungebundener Gemeinden tut man sich schwerer – schon weil sie rein lokale Phänomene sind. Und wenn »irgendein amerikanischer Prediger sich hier niederlässt und in einer Garage seine eigene Gemeinde aufmacht«, wie ein Pfarrer süffisant bemerkt, gibt es wenig Gemeinsamkeiten. Hemminger formuliert vorsichtiger. Er spricht von der zuweilen miserablen Ausbildung solcher Leute, und dass bei manchen Kleinstgemeinden das Ego der Protagonisten eine große Rolle spiele, weshalb sie, nicht anders als Splitterparteien, schnell wieder im persönlichen Zank zerfielen. Pastor Passon, der sich kein negatives Wort zu anderen Gemeinden entlocken läßt, gibt sich geradezu staatsmännisch bei der Vorstellung, er könne das Jesushaus für einen Egotrip nutzen: »Gemeindearbeit ist kein Spiel. Da hat man Verantwortung.«“ Spektakuläre Ohnmachten, Zungenreden oder Heilungen durch Handauflegen waren übrigens nicht zu besichtigen bei den Gottesdiensten. Mit Verstecken habe das aber nichts zu tun, sagt der Pastor, daran sei nichts peinlich. Auch diese Phänomene sehe er »ganz unverkrampft«, und tatsächlich gebe es im Jesus-Haus eigene Heilungsräume, ganz wie beim Arzt, mit Wartezimmer. »Noch hatten wir da nicht die großen Zeichen und Wunder«, räumt er schlicht ein, doch sein Blick sagt: »Was nicht ist, kann ja noch werden.« Amén?