So also klingt jemand, vor dem Rainald Goetz Angst hat. Nicht unangenehm, dieser überraschend hohe, leicht nasale Ton. Es ist eher die Stimme eines jungen, sehr schlanken, leicht gelangweilten, dabei aber manisch wachen Mannes. Soweit sich das jetzt am Telefon überhaupt beurteilen lässt. Denn Joachim Lottmann ist in einer unglaublich lauten U-Bahn unterwegs, die in jeder Kurve gegen das Gespräch anschleift. Es liege, so viel lässt sich dann doch verstehen, ganz in seinem Interesse, über sein neues Buch zu sprechen. Im Übrigen sei er für Außergewöhnliches ja immer zu haben. Ob wir in drei Tagen noch einmal telefonieren könnten? Zurzeit sei er zu beschäftigt, um sich auf einen Termin festzulegen. Das klingt jetzt wirklich sehr freundlich. Oder etwa nicht? Lottmanns Spezialität, so notiert Rainald Goetz am 1. August 1998 in »Abfall für alle«, »war das Erzeugen von zugewendeten Emotionen, durch Vorspielen eigener Gehemmtheit, oder eher durch übertriebenes Ausspielen von Verstörtheit, er spielte sich immer in der Rolle des Verstörten, Unbeholfenen und vergnügte sich an den davon erzeugten Reaktionen, mit denen spielte er dann wirklich.
Bei Joachim Lottmann war es das erste Mal, dass ich mir irgendwann dachte: Dieser Mensch ist wirklich böse. Finster, zuinnerst, zutiefst und ohne Grund, einfach böse.« Zurück im April 2006, Joachim Lottmann sitzt noch immer in der U-Bahn und hat nicht aufgelegt. Er habe da einen Text zugesagt, sei nun aber verhindert. Es geht um eine Vernissage in Köln. Ob mir nicht ein Autor einfalle, der für ihn einspringen kann? Darüber könne man ja heute Abend sprechen. Gegen 21 Uhr habe er Zeit für meinen Anruf. Ende des Gesprächs. Und: Herzlich willkommen in der großen Endzeitkomödie des Joachim Lottmann. Deren bislang letzter Akt heißt »Zombie Nation« und ist vor kurzem im Verlag Kiepenheuer & Witsch erschienen. Ein Buch, das als Ahnenforschung beginnt, zu einer Reise durch die ihrem Ende entgegendämmernde rot-grüne Republik wird und ganz nebenbei einen Ausblick auf die mentale Gerontokratie gibt. Die bislang letzte Stufe des Lottmann‘ schen Selbstversuches, das eigene Leben in ein ironisches Gesamtkunstwerk aufzulösen.
Begonnen hatte es 1987 mit einem quietschbunten Cover. Darauf finden sich neben den üblichen Informationen wie Titel (»Mai, Juni, Juli«), Autor (Joachim Lottmann) und Gattungsbezeichnung (Ein Roman) auch ein paar Angaben darüber, was der interessierte Leser auf keinen Fall erwarten sollte. Das ist eine ganze Menge: Kein Sex, keine verdammt gute Literatur, keine Monomanie, keine Exzesse, kein Tiefgang, keine geschmäcklerisch artifizielle Yuppie-Schreibe, kein Vergangenheitsbewältigungsmist, auch kein Avantgarde- Scheiß und und und. Stattdessen handelt »Mai, Juni, Juli« von einem Schriftsteller, der unbedingt ein Buch schreiben muss. Der Verleger möchte eine »Sache mit Biss«, der Autor versteht darunter »Authentizitätsbolzen« und bringt nichts zu Papier. Am Ende dieses Buches, dessen gefühlte Stimmung die eines einzigen heißen Sommertags ist, fragt der Ich-Erzähler: »Wozu war ein Buch da, wenn man nicht nach der ersten halben Seite Lust bekam, nach draußen zu rennen und es dem Buch gleichzutun?« Fünf Seiten später heuert er als Matrose an, bricht nach Madagaskar auf und der Roman ist zu Ende. So wie fast auch die Karriere Joachim Lottmanns, noch ehe sie richtig in Schwung kommt.
»Von Anfang an bestand der Trick darin, sich so extrem eng und hyperreal an die Wirklichkeit zu halten, dass jeder dachte, es sei einfach nicht wahr. Dieses beschriebene Leben war zu gut, zu aufregend, zu sexy, als dass es wahr sein konnte«, schreibt der 1956 in Hamburg geborene Lottmann sechzehn Jahre später, als er auf die Rezeption von »Mai, Juni, Juli« zurückblickt. Komischerweise wurde ihm nicht die unglaubliche, weil nicht vorhandene Sexyness des »beschriebenen Le bens« zum Problem, sondern – ganz im Gegenteil – die gezielte Indiskretion, mit der er den Kulturbetrieb vorführt. Denn nachdem er erste Auszüge aus seinem angekündigten, nie erschienenen Schlüsselroman über die Kölner Kunstszene, »Die Frauen, die Kunst und der Staat«, veröffentlicht, wird er zur unerwünschten Person erklärt. Martin Kippenberger habe damals eine »Fatwa« gegen ihn verhängt. Sagt Lottmann. Die Intellektuellen meiden seine Partys und der Verleger seine Manuskripte. Von denen gibt es reichlich, zwischen zwanzig und fünfzig schon zu dieser Zeit. Genaueres lässt sich kaum sagen, denn die Zahl ist, je nachdem, wann und von wem diese Geschichte erzählt wird, beträchtlichen Schwankungen unterworfen. Was auch zeigt, dass Joachim Lottmann sich überaus erfolgreich als Legende aufzubauen versucht.
Selbst der in Lottmanns lockerer Handhabung von Fakten und Fiktionen geschulte Leser wird in all dem nicht nur eine gekonnt zusammen gebastelte Verschwörungstheorie sehen dürfen. Tatsächlich dauert es einige Jahre, nämlich bis 2004, bis der Verlag Kiepenheuer & Witsch wieder einen Lottmann- Roman veröffentlicht: »Die Jugend von heute «. Zwischendurch verschwindet Lottmann weitgehend aus dem Wahrnehmungsbereich der literarischen Öffentlichkeit, zieht ein paar Mal um und schließlich mit einem Stipendium nach Berlin, behält aber seinen Hauptwohnsitz in Köln. Vermutlich sind in dieser Zeit zahlreiche Romane entstanden, einer davon wurde 1999 auch veröffentlicht: »Deutsche Einheit«, in dem Lottmann Christian Kracht zu seinem Schutzpatron erklärt und so um die verspätete Aufnahme in den eigentlich schon geschlossenen Club der Pop-Literaten wirbt.
Schwer zu sagen wann, aber Lottmann hat den maroden Pop-Laden dann einfach übernommen. Der Internet-Enzyklopädie Wikipedia gilt er aktuell als einer der »Urväter der deutschen Pop-Literatur«, Christian Kracht als sein Epigone. Das hingekriegt zu haben ist zweifellos ein Geniestreich. Unerwähnt bleibt, dass Lottmann selbst es ist, der diese Vaterschaft immer wieder für sich in Anspruch nimmt. Keineswegs überraschend und irgendwie auch konsequent wäre, wenn Lottmann selbst den Eintrag über sich verfasst hätte. Als Experte in eigener, bei aller stilistischen Leichtigkeit doch immer schwer irritierenden Sache. Schließlich, so lässt sich nun in »Zombie Nation« nachlesen, schreibt er auch dann, wenn er sich vorgeblich für die Süddeutsche Zeitung mit dem »Pop-Standort« beschäftigt, gern schon mal einen Text »über mich und einzig von mir selbst verstehbar.« Doch bevor Joachim Lottmann sich mit »Die Jugend von heute« endlich als keineswegs vorbehaltloser Teil einer Jugendbewegung ausweisen kann, verabschiedet er sich im Juli 2003 noch schnell von seinen geistigen Kindern in einer »letzten langen Nacht der Popliteratur«. Christian Kracht, Benjamin von Stuckrad-Barre, Alexa Hennig von Lange sind dazu geladen. Feridun Zaimoglu, der mit der literarischen Popkultur nicht wirklich viel anfangen kann, hätte auch zugegen sein sollen. Erwähnenswert ist das deshalb, weil es den Organisatoren des Abends gelingt, diese ebenso exquisite wie absurde Gästeliste in Berliner Zeitungen zu platzieren, die die kleine Feier dankbar ankündigen. Erschienen sind dann Wolfgang Herrndorf und Sven Lager.
Joachim Lottmann trägt an diesem Abend ein schwarzes T-Shirt, auf dem »Erfolgsautor« steht. Und sagt: »Der Spagat zwischen jungen Menschen und mir ist mittlerweile zu groß geworden, sodass es durchaus Sinn macht, nunmehr ein Seniorenprogramm aufzulegen.
« Abgang von der Show-Bühne. Als Experte in Sachen Jugendkultur kehrt Lottmann im folgenden Jahr furios zurück. Sein »Seniorenprogramm« ist 319 Seiten lang und gibt sich als Reportage. Auf dem Cover liegt eine leicht lasziv dreinschauende, junge Blondine mit rot geschminkten Lippen. Sie trägt ein dunkelblaues Halsband, hält die Hände über die nackten Brüste, der Körper darunter ist abgeschnitten. Auf ihrer Schulter sitzt ein ebenfalls dunkelblauer Schmetterling.
Neben Autor und Titel steht: Roman. Was nicht verhindern kann, dass Lottmann sich von Bettina Böttinger genötigt sieht, dem Land zu erklären, wie die Jugend nun wirklich tickt. Die erreiche nicht mehr die postpubertäre Reife, stellt Jolo, Lottmanns Alter Ego, fest. Und: »Ich war der letzte lebende Teenager.« Nachdem er eine ganze Zeit mit seinem Roman-Neffen Elias und dessen »Homies « durch die Berliner Clubszene gezogen ist, ihre Drogen genommen und ihre Musik gehört hat. Schön, klug, gebildet, komplett irrational und verstandesentkernt. All das ist die »Jugend von heute«. Aber das war sie doch eigentlich immer, oder nicht? Ihr eigentliches Problem ist laut Lottmann dann auch ein anderes: Statt zu »bohnern« kuschelt sie nur.
Joachim Lottmann ist nun wieder ziemlich groß im Geschäft. Und sitzt jetzt schon wieder in der U-Bahn. Es ist Freitag Nachmittag, und diese wirklich wunderbare Stimme fragt: »Sind Sie der von der Netzeitung?« Nein. Da habe er wohl etwas durcheinander gebracht. Die wollen nämlich auch ein Interview. Jetzt müsse er sich aber mal die Telefonnummer aufschreiben. »Ich melde mich heute bei ihnen. Versprochen!« Der Herr von der Netzeitung hat dann wohl auch noch angerufen. Denn in der folgenden Woche steht dort, wie Joachim Lottmann mit ihm bei Karstadt in Berlin Neukölln eine Kohlrabi-Suppe essen gegangen ist. Später sind sie dann auch noch zur Rütli-Schule spaziert.
Dabei hat Lottmann ihm erzählt, dass er Angst vor Menschen habe, seine Abende nicht mehr vor dem Fernseher, sondern in Talkshows verbringen möchte, dass er ein konservativer und romantischer Mensch sei. Und dass Gerhard Schröder ihm einst erst eine Abreibung verpasst und dann ein Bier ausgegeben hat. Vielleicht ist es besser, auf ein Interview mit Joachim Lottmann zu verzichten? Worüber könnte man mit ihm Mai 2006 29 Li teratur K.WEST sprechen? Über die Cover seiner Bücher vielleicht? Doch wohl nicht über die Erweiterung seiner Jugend-These um den Befund, dass die Babyboomer-Generationen mit ihrer kulturellen, finanziellen und politischen Hegemonie alles Neue unterdrücke. Ihm sagen, dass es in »Zombie Nation« einige wirklich große Passagen gibt – über das niederschmetternd trostlose Stern-Sommerfest oder die letzten Auftritte Gerhard Schröders –, die so wohl nur einer hinbekommt, nämlich er, Joachim Lottmann. Oder sich einfach nur davon überzeugen, dass es ihn wirklich gibt, den Mann, der so obsessiv hyperreal die Wirklichkeit wegzuschreiben versteht und dabei immer behauptet, ganz nahe am Leben zu sein.
Oder ihn einfach beglückwünschen dazu, dass es ihm gelingt, diese Wirklichkeit mit stetig wachsendem Erfolg immer unbemerkter in der so genannten Lottmann-Prosa verschwinden zu lassen. Derart ironisch sind seine Texte mittlerweile, dass es keiner mehr mitbekommt und sie sich einfach als Beschreibung dessen missverstehen lassen, was ist. Sein diesbezügliches Meisterwerk hat Lottmann Anfang März vorgelegt. Unter dem Titel »Hau ab, du Arsch!« nimmt er sich dort des schmutzigen Regietheaters der Gegenwart an. Besucht Gerhard Stadelmaier, »den letzten Kritiker«, lässt sich von ihm den Spiralblock zeigen (»an der Seite die berüchtigte geringelte Spiralfeder«), den der Schauspieler Thomas Lawinky dem FAZ-Mann während der Premiere von Ionescos »Das große Massakerspiel oder Triumph des Todes« am Schauspiel Frankfurt aus der Hand gerissen hatte. In Düsseldorf sieht Lottmann, während auf der Bühne Jürgen Goschs »Macbeth«-Inszenierung läuft, ein »Rinnsal von Flüchtenden, Vertriebene aus dem Theaterland, Alte, Gebrechliche, Enttäuschte, manche weinen.« All das wurde sehr ernst genommen. Es stand ja auch im Spiegel, für dessen Kulturteil Lottmann seit November 2005 arbeitet. In einem seiner nächsten Bücher werden wir dann wohl auch erfahren, ob Joachim Lottmann wirklich in Düsseldorf gewesen ist und was er dort erlebt hat. Jolo zumindest schreibt gelegentlich auch über Dinge, die er selbst nicht gesehen hat und veröffentlicht die Texte dann in der SZ. Steht in »Zombie Nation«. Nun stellt sich nur noch die Frage, wie »extrem eng« an der Realität das wiederum ist. Die wird kaum zu klären sein. Was nicht unbedingt damit zu tun hat, dass sich Joachim Lottmann nicht mehr gemeldet hat. //
Joachim Lottmann, Zombie Nation, Verlag Kiepenheuer & Witsch 2006, 398 Seiten, 9,95 Euro