Ob er Zeit für ein Gespräch anlässlich seines 75. Geburtstags habe? Die Antwort Jürgen Beckers auf die Email ist handschriftlich verfasst, wird als Brief durch den Postboten zugestellt, darauf zwei Telefonnummern. Das Vertrauen auf die bewährten Kommunikationswege kann den Leser von Beckers am eigenen Leben entlang geschriebenen Journalgeschichten eigentlich kaum überraschen. »Zwischendurch sind wir also wieder auf dem Land, und es ist uns ganz recht, daß wir in dem abseits liegenden Gehöft schwierig zu erreichen sind.« Nachzulesen ist dies in »Die folgenden Seiten«, Jürgen Beckers letztem, im vergangenen Jahr erschienenen Buch. Ursprünglich verfasst auf 200 Seiten eines alten Schreibheftes, handschriftlich. Auf einer dieser Seiten steht weiter: »Einst, in den dreißiger Jahren, galt das Gehöft als eine Art von Exil. Bis in die späten Vierziger half es seinen Bewohnern zu überleben. Die Erinnerung daran bildet so etwas wie einen Raum, in dem man ganz gerne für sich ist.« Porträt des Künstlers als weltabgewandter Mann also? Mitnichten.
Wie kaum ein anderer deutschsprachiger Schriftsteller hat Jürgen Becker seine Leser in den vergangenen zehn Jahren durch eben jenen Raum geführt, »in dem man ganz gerne für sich ist«. Der Becker-Leser hat deshalb nicht nur ein genaues Bild des alten Fachwerkhauses in Odenthal im Kopf, das am Ende eines schmalen Weges hinter Büschen und Bäumen versteckt liegt, wo Jürgen Becker schon im Hof auf den Besucher wartet. Er hat auch eine ziemlich genaue Vorstellung von dem unaufgeräumten, kleinen, durch einen Kanonenofen zu beheizenden Atelier unter dem Dach, von der verwinkelten Küche, von Stall und Scheune, die schon lange nicht mehr ihrem ursprünglichen Zweck dienen. Er meint sogar das oftmals beschriebene Geräusch der im Herbst zu Boden fallenden Birnen zu kennen. Birnbäume, von denen nur noch die Stümpfe stehen, wie Jürgen Becker während des kurzen Ausflugs durch den weitläufigen Garten erzählt. Herbststürme haben sie zu Fall gebracht. Doch die Tonspur findet sich im Gedächtnis Beckers aufbewahrt. Und in den Büchern, die unentwegt dieses »stumme Archiv« im Kopf zu aktivieren versuchen, wobei das Aufschlagen der Früchte im »Geschiebe der Assoziationen« manchmal in die Detonation der Fliegerbomben im 2. Weltkrieg übergeht, dessen Ende der 1932 in Köln geborene Jürgen Becker in Erfurt erlebte. So nimmt der Weg in den privaten Raum der Erinnerung meist seinen Anfang über die Beschreibung konkreter Orte, gibt die Landschaftsbeschreibung nicht selten den Blick auf eine historische Szene frei.
Um sich an die folgende Geschichte zu erinnern, braucht es jedoch keine weiteren Umwege. Sie handelt davon, wie einer nach dem Krieg Schriftsteller wird. Angefangen hat es damit, dass Becker, von irgendeinem Gelegenheitsjob nach Hause kommend, 1954 eines seiner Gedichte in der »Neuen Presse« abgedruckt findet und eine Woche später einen Verrechnungsscheck über 30 Mark erhält. Kurz darauf folgten ein weiterer Abdruck und Scheck, dann noch einer, bis Becker beschließt, sich als freier Schriftsteller zu verdingen. Damit dürfte er unter den Lyrikern einer der wenigen sein, den zunächst die finanzielle Perspektive dazu bewogen hat, es mit dem Gedichtemachen zu versuchen. Von der ökonomischen Seite her betrachtet ging die Kalkulation schnell nicht mehr auf. Es folgten deshalb Arbeiten für den Rundfunk, weitere Jobs und irgendwann Post von Hans Werner Richter, der Becker 1960 zu einer Tagung der Gruppe 47 einlädt.
Becker reist also nach Aschaffenburg und hat zwei »ziemlich wilde« Prosastücke dabei, fühlt sich aber, wie er sich heute erinnert, zwischen der »Obergefreitengeneration«, die überwiegend realistische Kurzgeschichten produziert, von Anfang an nicht recht am Platz. Nach ihm bringen Reinhard Döhl, Ludwig Harig und Dieter Wellershoff ebenfalls Experimentelles zu Gehör und stoßen dabei auf Ohren, die für derlei Neuerungen nicht eben empfänglich sind. Nachdem Wellershoff seine Lesung beendet hat, meldet sich lautstark Marcel Reich-Ranicki zu Wort. Nun wolle er mal wieder einen Goethe-Text hören. Und: Sei das eben Gelesene überhaupt noch Literatur? Ausgerechnet das aber traf den Punkt. Denn darum war es Becker, der 1967 der letzte Preisträger der Gruppe 47 sein sollte, damals zu tun: den vorherrschenden Literaturbegriff einer veränderten Wirklichkeit anzupassen.
Vier Jahre später bringt sich Becker dann explizit theoretisch »Gegen die Erhaltung des literarischen status quo« in Stellung, fordert »jene Impulse weiterzuführen, die, indem sie den Ruin der erzählerischen Kategorien betreiben, dem literarischen Neuen vorarbeiten«. Mit dem bürgerlichen Fundament sei dem Romancier auch die Übersicht über die darzustellende Wirklichkeit abhanden gekommen. Zwischenzeitlich hatte Hans Magnus Enzensberger den »Texteverfasser« Jürgen Becker als einen von fünf neuen deutschen Autoren in dem Band »Vorzeichen« vorgestellt. 1964 folgte die erste eigenständige Veröffentlichung, der sich über gattungstheoretische Zwänge souverän hinwegsetzende Band »Felder« bei Suhrkamp. Darin sammelt Becker nicht nur herumliegendes »Spruchzeug« an, ironisiert gruppentypische Idiome und notiert sinnentleerte Phrasen. Zugleich versucht er in den kurzen Texten einem absolut gesetzten Wahrnehmen und Fühlen neue Ausdrucksmöglichkeiten zu erschließen, indem er die Grammatik einer harten Belastungsprobe unterzieht. In sprachexperimenteller Tradition stehen auch die Prosabände »Ränder« (1968) und »Umgebungen« (1970), doch Anfang der 1970er ist das Dereglement in Gefahr, selbst zur Regel zu werden. »Ich wusste, dass es so nicht weitergehen konnte. Die Veränderung und Zerstörung von Sprache wäre sonst zu einer Methode geworden.«
Wer sich heute, in Kenntnis der zuletzt erschienenen Bücher Beckers, mit dessen Frühwerk beschäftigt, mag erstaunt sein, wie weit die nach 1970 einsetzende – in Beckers Worten – »kritische Entdeckung der Konvention« sein Schreiben von dem polemischen Ausgangspunkt weggeführt hat. Es bedarf schon einer sehr spannkräftigen Klammer, um dieses literarische Leben zusammenzuhalten. Vielleicht ist sie in der ungewöhnlich ausgeprägten Irritabilität seines Sensoriums zu finden. Steht am Anfang der Versuch, »jeden festen Ort« im unvermittelt flutenden Strom der Wahrnehmungen aufzulösen, hat Becker in den letzten Jahren zunehmend die eigene Vergangenheit als Thema entdeckt. Als Rückeroberungsversuch größerer, zusammenhängender narrativer Räume. Zunehmend hat er sich den 1964 vorschnell verabschiedeten »erzählerischen Kategorien« zugewandt. »Die Position von damals«, erzählt er, unentwegt rauchend, »war notwendig, um frei zu werden. Ich bin sehr leicht zu beeinflussen. Um gegen diese Gefahr anzugehen, habe ich mich abgegrenzt von dem, was literarisch seinerzeit en vogue war.«
Auf das sprachexperimentelle Schreiben folgte eine »Phase der Entflechtung« der verschiedenen Impulse. Diese bringt 1971 zunächst den Fotoband »Eine Zeit ohne Wörter« hervor, in dem Becker kapitelweise 281 Schwarz-Weiß-Fotografien zusammenführt. Dann eine Reihe von Gedichtbänden, formal locker und Ausgang überwiegend von subjektiven Alltagsbeobachtungen nehmend; dazu szenische Arbeiten, Hörspiele. Von 1974 an leitet Becker die Hörspielredaktion des Deutschlandfunks. Beworben hatte er sich dafür nicht. Er wurde einfach gefragt. So wie ihm Siegfried Unseld ein Jahr zuvor die Leitung
des Suhrkamp-Theaterverlags angetragen hatte. Die 1970er Jahre sind offensichtlich die Zeit der kurzen Karrierewege, in der Schriftsteller sich quasi über Nacht in herausgehobenen Funktionen wiederfinden. Ob haupt- oder nebenberuflich, das ist eine Frage der Perspektive
– für Jürgen Becker noch heute eine entscheidende, denn dem Selbstverständnis nach war der Rundfunkredakteur immer Schriftsteller. So wie Alfred Andersch, Ernst Schnabel oder Helmut Heißenbüttel, die ihr Brot ebenfalls in Hörfunkredaktionen verdienten und deren Vorbildfunktion für Becker existentiell war. Denn durch sie ließ sich sein Doppelleben zwischen Radio und Literatur rechtfertigen. Dabei diagnostiziert Becker sich von Anfang an als einen »Radiokopf, voll täglich vergangener Erfahrungen«, allgemeiner »Geräuschvermischung und des Stimmentauschens«.
Im Hörspiel »August ein See« lässt Jürgen Becker 1982 erstmals »Jörn« auftreten, zeichnet die Trennung seiner Eltern und den anschließenden Freitod der Mutter nach. Jörns Erfahrungen, so sagt Becker, sind durchaus vergleichbar mit denen seines Autors, ohne diesen mit seiner Figur gleichsetzen zu wollen. Bevor aus dem Lebensstoff aber der Roman »Aus der Geschichte der Trennungen« hat werden können, bedurfte es einer politischen Wiedervereinigung. Die nach dem Mauerfall möglich gewordenen Reisen durch die Landschaft seiner Jugend waren Voraussetzung, um ab Mitte der 1990er Jahren die Suche nach der »abgeschnittenen Kindheit« zu beginnen. Oft habe er die ersten Schritte dieser Zeitreise zurück in die Erfurter Jugendjahre geträumt: den Moment, als er auf den Bahnhofsvorplatz heraustritt, das gegenüberliegende Hotel wieder erkennt – das sei so plastisch gewesen, dass er dabei immer das Gefühl gehabt habe, nicht zu träumen. Am 3. Oktober 1990 hat Jürgen Becker dann tatsächlich auf dem Platz gestanden und sich gefragt: Ist das jetzt der perfideste Traum von allen?
»Lange Zeit hatte Jörn nichts erzählen wollen.« So beginnt – unverkennbar programmatisch – die 1997 erschienene Erzählung »Der fehlende Rest«. »Einfach so anfangen, es wäre in jedem Fall das Fortsetzen von etwas, das längst angefangen hat.« Denn die »Geschichte meiner Gewohnheiten«, die zu schreiben sich Becker nun auferlegt, reicht weit zurück in die Kindheit. Um sie zu Papier zu bringen, war eine ästhetische Kehrtwende nötig. Wenngleich Beckers zwei Jahre später erscheinender Roman »Aus der Geschichte der Trennungen« weit davon entfernt ist, ein zentrales Kapitel der deutschen Historie einfach so wegzuerzählen. Behutsam tastet sich hier ein Topograf auf das Feld der eigenen Erinnerungen vor, das zu vermessen ihm mit jeder neuen Assoziation eine immer größere Aufgabe wird. Dass das so ist, hat weniger mit literaturtheoretischen Erwägungen zu tun, als vielmehr mit dem Prozess der Erinnerung selbst, der in den Büchern immer auch selbst zum Thema wird. »Mir kommt immer etwas dazwischen, die Assoziationen gehen so wild durcheinander, dass ich nicht auf Linie bleiben kann«, sagt Becker. »Ich habe nie vor dem Schreiben ein Konzept oder ein Programm. Ich muss den Text finden, der in mir angelegt ist. Ich habe immer das Gefühl, dass das, was ich schreibe, schon da ist. Ich muss es nur ans Licht bringen.« //
Im Juni 2007 ist in der Bibliothek Suhrkamp Jürgen Beckers neuer Gedichtband »Dorfrand mit Tankstelle« erschienen, 99 Seiten, 12,80 Euro