»Bereit sein ist alles«, Hamlets Parole könnte Devid Striesows Motto [lauten] sein, der in dieser Über-Alles-Rolle kristallin war, hirnwütig und leidenschaftlich, klösterlich und diszipliniert, kantisch logisch, kühl bis ans Herz. Kaum zaudernd. Knapp und schlank nahm er die großen Monologe, fast könnte man meinen auf die leichte Schulter. Sterben schien da eine literarische Sportart, mit der die Jugend vertraut ist. Bezwingend einfach. Effizient, klänge das nicht zu sehr nach Kanzler-Deutsch und Job-Gipfel. Bei dem 32-Jährigen hat man das Gefühl, ihm fliege alles zu und koste keine Mühe. Die Gefahr, die Hamlet beschwört, durch die Wucht der Anstrengung vom Weg abzukommen, steht bei Striesow, dem Prinzen-Darsteller 2001 unter Jürgen Goschs Regie im Düsseldorfer Schauspielhaus, nicht zu befürchten. »Ich muss mich nicht von dem erholen, was mir ohnehin Spaß macht. Der Job an sich ist keine Arbeit.«
Egal, was kommt. Nun kommt die Lady Macbeth, wieder mit Gosch, wieder in Düsseldorf. Wieder im offenen (Proben-)Spiel, wieder mit Thomas Dannemann wie in den »Sommergästen« als Widerpart. Premiere: Juni. Die Theaterrepublik wartet und staunt über den jungen Sechziger Gosch, der seine »Ohs« aufs Spielfeld wirft und seine Schauspieler sein lässt, bis »die groben Verabredungen notiert sind«. Während bei einigen die Tagesform durchschlägt, scheint Striesow sich im Griff zu haben, sich steuern zu können. »Boom. Lampe an!«. Los geht’s.
George Steiner sagte jüngst in Marbach, dass wir Gegenwartsmenschen mit dem Stotterer Woyzeck vertrauter seien, als mit den herrlich pathetischen Schiller-Helden. Devid Striesow, der ein idealer Graf Wetter, Hamlet, Homburg, Posa war, hat nun auch den armen Soldaten, das radikal Andere wunderbar gespielt. »Woyzeck« (Hamburger Schauspielhaus, Regie Laurent Chétouane) als Sprachbehinderungs-Drama. Aus dem Widerstand gegen das Wort – und das bei einem Sprachdurchleuchter wie Striesow. Der klare, kühne, nie angestrengte Schauspieler geht mit dem Leiden an der Sprache grandios um. Man hört die Stille des Kosmos, wenn er lauscht, stockt, stammelt, sich an die Sätze herantastet, als würden diese zum ersten Mal Laut. Ein Körper-, ein Kortner-Schauspieler. In seinem expressiv-depressiven Woyzeck ist vieles enthalten: Kleist, Faust, Beckett, Fritz Langs »M«-Peter Lorre. Es ist eine theatralische Zumutung – und war auf den Proben ein echter »Nervenkrieg«, wie Striesow sagt.
Seine Karriere, die, kaum dass man’s sich versah, von Null auf Hundert durchgestartet war, verläuft ungebremst: seit seinem Wetter vom Strahl (2001 ebenfalls in Düsseldorf und mit Gosch). »Erst mal ist der Beruf an sich so, unberechenbar – und privilegiert«. Denn was sei das schon groß, und es erfolgt ein Fingerschnippen, während Striesow erzählend vom Theater- zum Filme-Machen springt. Zuerst sitze man im Zug oder Flugzeug, komme irgendwo an, werde morgens mit dem Wagen abgeholt zum Drehort, warte, bis die Klappe fällt, und werde die ganze Zeit über hofiert. »Du bist wie in einem Vakuum und orientierst dich rasch ganz neu.« Nie habe er sich wirklich mit etwas herumschlagen müssen, was ihm nicht liege. Im Theater so wenig wie bei den Arbeiten für Kino und Fernsehen, die er schon nicht mehr zählt. Mehr als dreißig werden es wohl sein.
Vor sechs Jahren antwortete er, befragt nach seinen Wünschen: »gern frei sein zu wollen für Möglichkeiten, beflügelt zu werden«. Das hat sich erfüllt. Was kann noch kommen nach dem Beschleunigungsgang? Da habe er keine Bange, meint Striesow, nun in einem Hamburger Café, bevor er abends im Schauspielhaus in »Don Carlos« auftritt. An der Kirchenallee auch hatte der auf Rügen geborene Striesow nach Musikstudium und Ausbildung an der Ernst-Busch-Schule sein erstes Engagement. Er könne auch wieder Geige spielen, aufs Land ziehen oder »in Bernau Sandaletten verkaufen«. Ihn interessiert genug anderes. Aber je älter er werde, sieht er für sich Filmrollen mit »mehr Hinterland«.
Nachdem er 2004 beim Berliner Theatertreffen für seinen Wlas in den »Sommergästen« ausgezeichnet, allseits für seinen Ingo in Hans-Christian Schmids Episodenfilm »Lichter« belobigt und ihm dafür und für den Film »Bungalow« der Preis der deutschen Filmkritik 2003 verliehen wurde, hat er immer noch nicht das Gefühl, ein Star zu sein. »Es gibt keine«, tut er ab. Recht hat er, wo es doch nur noch brisant ist, Promi zu sein. Überhaupt, »mit allem präsent sein zu müssen«, fände er schlimm. Beruf: Schauspieler. Das reicht.
Zum Glück gehört, im richtigen Moment am richtigen Ort auf die richtigen Menschen zu stoßen. Striesow traf Gosch: »jemand, der einem Raum gibt, unkompliziert und unprätentiös« Und »immer auf der Suche nach dem So und nach dem So«. Die »Ernsthaftigkeit« – ein Wort, das Striesow gefällt –, die Gosch ihm vermittelt und die zu improvisiert wirkenden, entspannten, höchst präzisen Abenden wie Kleists »Käthchen« und »Homburg«, »Hamlet« und »Sommergäste« in Düsseldorf führen, schließt anderes aus. Striktes Abgrenzen: Nein, er schätze nicht »die Art des Inszenierens, die uns Zuschauer wegnimmt.« Als Nachwort erfolgt ein klares »So n Müll«. Ihn beschäftigt, ob der Widerstand bei Teilen des Publikums, die die »Sommergäste« als »Kasperzeug« empfänden, nicht damit zu tun habe, dass sie sich bereits von vielen Inszenierungen auf den Arm genommen fühlten und glaubten, dass hier sei wieder so etwas. Seine frühere Lebensgefährtin und Kollegin Maria Simon attestierte dem Vater des gemeinsamen Sohnes Ludwig »nostalgische Bindungen an vergangene Zeiten«.
Wenn Striesow die Bühne betritt, scheint er sich zu straffen und ungeheuer zusammenzunehmen. In Schillers »dramatischem Gedicht«, das in Hamburg zum statuarischen Königskinderspiel erstarrt, bringen er und August Diehl als einzige Emotionen zustande, die mehr sind als lackierte Rhetorik. Striesow besitzt auch hier die Gabe, so herunterzuspielen, dass der Charakter im Moment zu entstehen scheint: »Die Fülle steht im Text, das andere gibt man, wenn man auftritt. Ich habe nie den Ehrgeiz, eine Interpretation zu liefern – und finde das auch gar nicht wichtig. Der Posa ist derart konstruiert und verleimt, mit dem gehe auch ich ratlos, vielleicht unbewusst um und teile das dem Publikum mit, das sich wiederum seine Figur zusammenbaut.«
In »Sommergäste«, dieser Gorki-Revolte in ihrer krassen Gegenwärtigkeit, sind er und Dannemann die Dynamos. »Ich bin da«, steigt Striesow als Wlas ein, kribbelig, ins Spiel zu kommen. Grüner Trainingsanzug und Turnschuhe, die kann er gut gebrauchen, so wie er sich abfedert: Sprinter mit der Option zum Marathonmann. Kurzatmig, aber mit langer Puste. Der charmant unverschämte Striesow-Clown fiedelt wie wild auf der Geige, bläst auf der Mundharmonika, dreht übermütig Runden auf dem Fahrrad; hüllt sich in Wintermantel und Kopftuch einer alten zittrigen Dienerin wie in ein Kollwitz-Motiv. Ein Kindskopf, anti-pathetisch, anti-korrekt, überhaupt anti. Er findet »es interessant, den Stillstand dieser Gesellschaft über einen Motor zu erzählen und nicht den Stillstand über den Stillstand.«
Striesow zu beobachten, wenn er sich als Wlas am Spielfeld-Rand hinhockt, kann einem Schreck einjagen. Er sitzt da, krümmt sich schmerzverzerrt, als kämpfe er eine Kolik nieder, als quäle ihn Atemnot. Lauert er nach außen, horcht er nach Innen? Es wäre doch »furchtbar auszusteigen«, sagt er, »und viel zu schwierig, wieder ins Spiel hereinzukommen, den Rhythmus und Zustand zu halten«. In diesen Momenten präsenter Abwesenheit zeigt Striesow, was in der Figur außer dem Abgefahrenen noch steckt: Qual, Melancholie, Trauer. Und der darüber Trauer ausrufen möchte durch die ganze Natur.
Hat die Leidensgrimasse etwas mit ihm selbst zu tun? Nein. Er empfiehlt die Anleitung »Richtig und falsch« von David Mamet: »Der hat eine Menge Ahnung«. Es gebe eben Schauspieler, die müssten es durchleben, bei anderen seien es eher Lust und Reiz, etwas herzustellen. Striesows Leidenschaft scheint schlicht Lebenskraft zu sein. Ernst-Busch-Schule eben, mit ihrer fundierten handwerklichen Ausbildung, eingepaukt wie Lesen, Schreiben, Rechnen. »Wenn man als Anfänger auf der großen Düsseldorfer Bühne steht, braucht man diese Technik, muss man flexibel mit dem Material umgehen können«. Sein früherer Sprecherzieher habe ihm beigebracht, Sprache und Emotion nicht zu doppeln: »die Sprache nur noch rausfallen zu lassen und die Emotion unter der Schönheit der Sprache einfach liegen zu haben«. Dann zitiert er Gosch, der sich als »Wirkungsmechaniker« charakterisiert. Alles ist möglich, idealistische Aufschwünge, Pathos, Todesmut und Heroismus, aber im Rüstzeug der Normalität. »Bloß keine Kunstfigur« erfinden, sondern »es so einzusprechen, dass es wieder bei einem ist. Wenn das Normalität ist, finde ich es erstrebenswert.« Da ist er mit sich im Reinen.
Irgendwie stehen Devid Striesow Unterhemden gut, nicht feine T-Shirts oder Design- Fummel, die den Körper modellieren, sondern ordinäre Trägerhemden Marke Schiesser, wie er eines trägt als Lanski in dem sehr eigenwilligen Film von Jens Jenson, gedreht in Striesows letztem Studienjahr 1999. Kein Kino-Füller, aber zwei Wochen immerhin sei er im New Yorker Museum of Modern Art gelaufen. In dem schwarzweißen Roadmovie »Amerika« spielt Striesow Stillstand und Lethargie, spielt den Kafka und den Kaurismäki, wenn er als abgebauter Bergmann aus dem Eichsfeld nach Berlin aufbricht, um sich dort in den betonierten Ruinen des Aufbaus zu verlieren. Es scheint, als sei Striesow in nichts so sehr zu Hause wie im Scheitern. Dem Schauspielschüler ging es ähnlich. Beinahe gescheitert. Das Funktionieren-Müssen, Konkurrenz-Verhalten und Vergleiche-Anstellen gingen ihm auf den Geist. »Das hat mich blockiert. Klassenverband und Marschtritt sind nicht mein Ding.« Bis ein anderer Lehrer kam, bei dem er nichts erfüllen musste: »Thomas Thieme war mein Schlüsselerlebnis.«
»Willkommen in der Wirklichkeit«. Die zynische Begrüßung, mit der uns Hans-Christian Schmids in »Lichter« die Augen öffnet, gilt auch dem Matratzenverkäufer Ingo, den Striesow etwas speckig, mit angekletschtem Haar und in billiger Lederjacke spielt, nervös an der Zigarette ziehend und sein Brillengestell befummelnd. Ein Deutschland-Schnappschuss. Ingo, der verzweifelt die Scheinexistenz eines Start-up-Unternehmers aufrecht zu erhalten sucht, indem er die Regeln des Kapitalismus etwas ausweitet, während ihm letzte Sicherheit weggezogen wird. Wie Striesow die leer laufende Mechanik der Unbekümmertheit steuert, die sich den eigenen Abgrund verbirgt, die vortäuscht, was er selbst nicht mehr glaubt, und der doch nicht raus kann aus seinem Ego und den Planspielen der Ich-AG, ist die Fortschreibung des Willy Loman unter beschleunigten Bedingungen. Ist der verhetzte Woyzeck 170 Jahre danach. Vor Devid Striesow liegt noch jede Menge Hinterland.
Premiere von »Macbeth«, inszeniert von Jürgen Gosch, am 11. Juni im Düsseldorfer Schauspielhaus; »Sommergäste« am 13. Juni 2005.