TEXT: ULRICH DEUTER
Seit den ersten Hochkulturen wachsen unaufhörlich die Städte, sowohl an Größe wie an Zahl. Von den gut sechs Milliarden Individuen der derzeitigen Erdbevölkerung lebt seit neuestem die Hälfte in Städten – 1800 waren es erst drei Prozent, 1900 14 Prozent. Zwar lässt sich immer schon auch Gegenläufiges beobachten, Rom etwa war im 1. Jahrhundert eine Millionenstadt und besaß im Mittelalter nur noch 20.000 Einwohner. Doch inzwischen ist die Entwicklung zum Weniger, neben der zum Mehr, ein Trend geworden: Während sich einerseits gewaltige Mega Cities wie Mexiko oder Bombay mit 20 Millionen Einwohnern zusammenballen, lösen sich immer mehr andere urbane Zentren auf: Jede vierte Stadt war zwischen 1990 und 2000 eine schrumpfende. »Shrinking Cities« sind zum unabweisbaren Thema für Politik, Polizei, Stadtplanung geworden.
Und zum Gegenstand eines Untersuchungsprojekts, das 2002 angesichts des dramatischen urbanen Schwunds in Ostdeutschland mit binnen kurzem einer Million leerstehender Wohnungen ins Leben gerufen wurde. Die Bundeskulturstiftung war der Initiator, sie bestellte den Architekten Philipp Oswalt als Kurator, gab vier Millionen Euro aus ihrem Etat, initiierte Forschungen, knüpfte ein Netzwerk aus 200 Künstlern, Architekten, Stadtplanern und anderen Wissenschaftlern aus 14 Ländern, schob über 120 Projekte in sechs international besonders vom Schwund betroffenen Regionen an und legte nicht zuletzt eine Wanderausstellung auf, die 2004 in Berlin startete und über Stationen in Halle-Neustadt, New York, Tokio, Detroit, Sofia usw. jetzt in Dortmund angekommen ist, im Museum am Ostwall.
DIE RUHRIS WERDEN WENIGER
Damit ist »Schrumpfende Städte – Regionen neu denken« in einer Region zu sehen, die selber zu einer schrumpfenden geworden ist. Der Raumplaner Hans Blotevogel von der Universität Dortmund, als Local Scout an der hiesigen Fassung der Ausstellung beteiligt, weiß die Hauptlinien dieses Prozesses zu benennen: Die Einwohnerzahl des Ruhrgebiets sinkt unaufhörlich (Bevölkerungsrückgang 1962 bis 2006 in Dortmund 10, in Duisburg 25 Prozent), nach 2020 werde dieser Prozess, so Blotevogel, dieselbe Dynamik annehmen, die vor gut 100 Jahren mit umgekehrtem Vorzeichen die Bevölkerungszahl des Reviers hatte explodieren lassen (1818: 220.000; 1905: 2,6 Mio.; 1967: 5,7 Mio. Einwohner).
Dabei schrumpfe das Ruhrgebiet keineswegs räumlich, im Gegenteil. Da die Zahl der Haushalte wachse, würden immer noch Wohnungen gebaut, was vor allem für die attraktiven Gebiete südlich des »Ruhrgebietsäquators« gelte, der A 40. Wohin-gegen nördlich dieser Linie bereits hier und da Rückbau herrsche. Grund für den Menschenschwund: neben Abwanderung vor allem die negative Geburtenstatistik, weswegen besonders die »alten« Städte wie Gelsenkirchen, Essen und Mülheim Einwohner verlören. Die zunehmende Zahl der Alten aber stelle auch ganz neue Herausforderungen an die Stadtplanung in Sachen kommunaler Infrastruktur, vom Wohnungstyp bis zu Versorgungssystemen.
DIE INDUSTRIE IST JETZT IM MÜNSTERLAND
Während also das industrielle Kernland Nordrhein-Westfalens mit dem Wegfall eben dieser Industrie menschenleerer und -leerer wird, aber keineswegs als Region zerfällt, sondern im Gegenteil einen historisch nie gekannten inneren Zusammenhalt erlebt; während dennoch seine Städte untereinander mit Bebauungsplänen um junge Familien konkurrieren, so lange wahrscheinlich, bis auch diese Häuser keiner mehr braucht; erleben Städte wie Bonn und Münster Zuzug und Zuwachs. Mittlerweile ist, Ironie der Geschichte, das Münsterland um die Hälfte stärker industrialisiert als das Ruhrgebiet.
Städteschrumpfung ist also ein komplizierter, divergenter, offenbar planerisch kaum zu konterkarierender Prozess mit unterschiedlichen Ursachen und ebensolchen Verläufen. Was die Ausstellung im Ostwall-Museum dankenswert deutlich macht. Unterteilt ist die trotz des abstrakten Themas optisch ansprechende Schau in jene sechs international besonders vom Schwund betroffenen Stadt-Regionen, neben dem Ruhrgebiet (das sonderbarerweise in dem im doppelten Sinne schwergewichtigen Katalog nicht vorkommt!) Hakodate in Japan, Detroit, Ivanovo (Russland), Manchester/Liverpool sowie Halle/Leipzig.
VERDICHTETES WOHNEN ENTFÄLLT
Dabei wird jede dieser Shrinking Cities in ihrer Historie auf einer Schautafel vorgestellt, Fotos, Videos, Texte und (teils interaktive) Projektionen ermöglichen – einiges an Zeit vorausgesetzt – ein recht genaues Kennenlernen der je spezifischen Problematik. Schnell begreift man, dass keineswegs der wirtschaftliche Niedergang den Hauptauslöser für das Kleinerwerden einer Stadt abgibt; der Funktionsverlust vieler städtischer Zentren hat seine Ursache vielmehr im Schwinden beschäftigungsintensiver Industrien, womit ein zentraler ökonomischer Grund für städtisch verdichtetes Wohnen entfällt, also die Konzentration von Menschen, Verwaltungen, Ausbildung, Unternehmen auf nahem Raum. So sind in den USA bereits 60 Prozent der Büroflächen in suburbs angesiedelt, 90 Prozent der Büroneubauten entstehen hier. In Detroit beispielsweise war es die (Automobil-)Industrie, die keineswegs unterging (wie die Montanindustrie im Ruhrgebiet), jedoch das Zentrum der Stadt verließ und sich an der Peripherie niederließ; die Einwohner folgten. Die Stadt verlor in den letzten 50 Jahren die Hälfte seiner ehemals zwei Millionen Einwohner, 200.000 Häuser mussten abgerissen werden, die City verarmte, doch das vorstädtische Oakland, das sich nun wie ein Donut um eine leere Mitte schlingt, gehört zu den reichsten Bezirken des Landes.
IN SCHRUMPFENDEN STÄDTEN WÄCHST DIE POPMUSIK
Ähnlich groß ist der Einwohnerverlust, ähnlich brach liegen große Teile Manchesters und Liverpools. Nur ist hier die Industrie, die weltweit die historisch erste war, tatsächlich verschwunden. Scharen von Jugendlichen leben in leerstehenden Häusern, eine Fotoserie in Schwarzweiß zeigt Menschen, die täglich im Müll der Birkenhead-Kippe nach Wertvollem suchen. Der TV-Film »The Battle of Orgreave« zeigt die 1984/85 in eine regelrechte Schlacht ausgearteten Auseinandersetzungen zwischen der Polizei und Bergleuten, die gegen von der Thatcher-Regierung initiierte Zechenschließungen anzustreiken versuchten. Der Katalog vermerkt, dass schrumpfende Städte überdurchschnittlich oft und herausragende Popmusik-Szenen hervorbrachten (Detroit den Techno); inzwischen hat es Liverpool ein Stück weit geschafft, sich aus dem Stoff seiner ungebrochen lebendigen Musik-Szene (von The Beatles bis Punk und House) eine neue Legende als Kulturmetropole zu schaffen; die Stadt am Mersey ist in diesem Jahr Kulturhauptstadt Europas. Doch bleibt sie zutiefst zerrissen, ein Gemeinwesen, das keines mehr ist, deren von postfordistischen (wie es so schön heißt) Erwerbsformen ausgeschlossene Bewohner in Armut leben und das »Überlebenshandbuch« aus Ivanovo, der ehemaligen Textilstadt nordöstlich von Moskau, gut brauchen könnten: einen Ratgeber für Stadtbewohner faktisch ohne Einkommen.
Und unsere Brüder und Schwestern im Osten? Halle verlor nach der Wende ein Viertel seiner Einwohner, Leipzig 17 Prozent. Der Grund hier: wie in Ivanovo postsozialistische Deindustrialisierungsprozesse sowie Wegzug nach Westen vor allem der Jungen und, dadurch verstärkt, demografischer Wandel. Ein an schematischen Diagramm-Darstellungen sich orientierender Groß-Comic von Andreas Siekmann dokumentiert den Anteil der Treuhand an diesem Desaster. Farbfotos von Tobias Zielony bezeugen, wie sehr in den ausgedünnten Gebieten des Ostens Tankstellen zu den Ortszentren geworden sind, die es sonst nicht mehr gibt.
Soweit die Bestandsaufnahme. Eine Parallelausstellung in Duisburg will unter dem Untertitel »Interventionen« mögliche Handlungsmodelle beschreiben. Denn Schrumpfung herrscht zwar weltweit. Liverpool aber soll nicht überall sein.
Museum am Ostwall, bis 27. April 2008. Tel.: 0231/50-23247. / Liebfrauenkirche Duisburg, König-Heinrich-Platz, bis 11. Mai 2008. Alle Infos, auch über das ausführliche Veranstaltungsprogramm rund um die Ausstellungen, unter www.shrinkingcities.com. Katalog (Hatje Cantz) je 22 €.