INTERVIEW: ANDREJ KLAHN
»Der erste SDS-Genosse, der diskutable Belletristik präsentiert«, das attestierte Der Spiegel einst Wolf Wondratschek, der sich schon früh in alle möglichen Formen des Protests eingeübt hatte. Gegen das harte Regime seines Vaters, das Wondratschek selbst einmal als »Erziehung mit dem Rohrstock« bezeichnet hat, demonstrierte er, indem er barfuß auf die Straße rannte. Eine Erkältung war die Folge, die Auseinandersetzung damit aber noch lange nicht beendet. Irgendwann wurde der Sohn dann aufgefordert, das Haus zu verlassen. Das, so hat Wondratschek später zu Protokoll gegeben, sei der bis dato glücklichste Moment seines noch jungen Lebens gewesen. Vor dem Jugendgericht versuchte sich der Minderjährige mit Hilfe des Religionslehrers vergeblich das Recht zu erstreiten, dem Elternhaus auch weiterhin fern bleiben zu dürfen.
Geboren 1943 in Rudolstadt, Thüringen, hat der heute in Wien lebende Wondratschek es sich und anderen nicht leicht gemacht. Er hat sich riskiert. Sein erster, 1969 erschienener Prosaband »Früher begann der Tag mit einer Schußwunde« brach mit herkömmlichen Erzählformen, fand bei der Kritik überaus positive Resonanz und erreichte hohe Auflagen. In den 70ern brachte Wondratschek auf eigene Kosten im Selbstverlag und bei »Zweitausendeins« Gedichte und Lieder heraus, die seinen Ruf als »Rock-Poeten« begründeten und ihn zu einem der bekanntesten Lyriker der 70er Jahre machten. Nicht zuletzt der 1992 erschienene Roman »Einer von der Straße«, gewidmet der Münchner Kiezgröße Walter Staudinger und eng an dessen Leben entlang geschrieben, dokumentiert Wondratscheks damalige Faszination für das Rotlicht-Milieu. Dass der Dichter zu dieser Zeit in handgefertigten Cowboystiefeln aus Krokodilhaut unterwegs war, machte ihn für literarische Tugendwächter verdächtig. Fortan galt er als Experte für Schmuddelthemen wie käufliche Liebe und Boxen, er selbst aber wurde nicht müde darauf hinzuweisen, dass es ihm allein um Literatur gehe.
In seinem am 7. März erscheinenden neuen Prosatext, »Das Geschenk«, begegnet dem Leser eine bekannte Wondratschek-Figur wieder: Chuck, dessen Körper sich in dem 1974 erschienenen Gedichtband »Chuck’s Zimmer« anfühlt »wie ein kaputter Hubschrauber«. Aus Chuck ist ein alter Mann geworden, er ist pleite und – wie Wondratschek – Vater eines Sohnes, von dessen Mutter er getrennt lebt. Die Geburt des Kindes bedeutet für Chuck auch die Abkehr von seinem exzessiv rauschhaften Leben. Doch Glück, das wird den Leser der frühen Gedichte nicht überraschen, ist eben immer auch ein trauriges Geschenk. »Er hatte gewußt, warum ihm die Heiterkeit eines ewig kinderlosen Junggesellen als Glück gereicht hätte, daß er der Liebe eines Vaters zu seinem Kind nicht gewachsen sein würde, daß er dieser Liebe ausgeliefert sein und sie ihn, weil sie seine Kräfte überstieg, traurig machen würde, traurig wie nichts anderes auf der Welt.«
K.WEST: »Es ist schwierig, ein Sohn seiner Eltern zu bleiben. Die Familie ist eine Bombe mit roten Schleifchen.« Das haben Sie vor mehr als vierzig Jahren geschrieben. Wie fühlt es sich an, wenn Sie diese Zeilen heute, als Vater, lesen?
WONDRATSCHEK: Gut! Sehr gut! Mit diesem Satz bringe ich, ich wette, auch heute noch ein Publikum zum Schmunzeln. Ich habe damals die Bombe hochgehen lassen. Danach war klarer Himmel.
K.WEST: In »Das Geschenk« legt Chuck die Hand auf den Grabstein seiner Eltern und spürt durch den Stein hindurch Wärme in ihn übergehen. Eine versöhnliche Geste. Auch eine Geste der Reue?
WONDRATSCHEK: Eine versöhnliche Geste, ja, aber keine Reue. Wie soll ich mich sonst von einem, der im Grab liegt, verabschieden? Und manchmal denke ich an eine Welt, wo ein Sohn seinem Vater die Hand auf die Stirn legt. Was wir zu Lebzeiten versäumen zu tun; das ist der Jammer!
K.WEST: Sie zitieren am Anfang des Buches ein Gedicht aus dem 1974 erschienenen Band »Chucks Zimmer«: »Chuck, der sein Kind liebt, das nie zur Welt kommen wird«. Einunddreißig Jahre später sitzt dieser Chuck mit seinem 14-jährigen Sohn in der Küche.Und man kann den Eindruck haben, dass es im Folgenden auch um eine Rechtfertigung dafür geht, dass es dieses Kind, das Chuck ungewollt geschenkt wurde, überhaupt gibt.
WONDRATSCHEK: Wofür sollte sich Chuck rechtfertigen? Es ist ja alles gut gegangen. Der Sohn ist gesund zur Welt gekommen. Und noch einer ist zur Welt gekommen: Chuck selbst. Das ist ja die schöne Pointe des Romans, diese Doppelgeburt. Die beiden, Vater und Sohn, fangen zeitgleich an zu leben. Für diesen Einfall hat sich nur der Autor zu rechtfertigen.
K.WEST: Der Sohn begegnet Chuck nicht unbedingt aufsässig, sondern er duckt sich weg, will sich von seinem Vater die Welt nicht erklären lassen. Auf gewisse Weise wiederholt sich da ein unausgetragener Vater-Sohn-Konflikt, oder?
WONDRATSCHEK: Pubertierende Söhne sind wunderbare Lebewesen. Sie sind Kämpfer. Sie sind voller Kraft. Sie schenken sich und der Welt nichts. Es muss ein Leben geben, das keinem anderen gleicht. Es muss Frauen geben, die man anfassen kann. Es muss Träume geben, die keine bleiben. Es muss Eltern geben, die man lieben kann.
K.WEST: Ein Kind will wenig passen zu einer Schriftstellerexistenz, die auf Unabhängigkeit und Alleinsein gegründet ist.
WONDRATSCHEK: Das Recht, ein eigenes Leben zu führen, verbleibt ja bei mir, auch als Vater eines Kindes. Ich bin ja nicht das Opfer meiner Vaterschaft. Ich trete ja nicht der sogenannten bürgerlichen Welt bei. Eine Mitgliedschaft in der Welt einer Familie habe ich immer abgelehnt – und immer andere Wege gesucht, auf das zu reagieren, was das Schicksal einem Menschen an Überraschungen liefert. Alles, was passiert, ist willkommen. Es bleibt einem nur, den Sinn im Lauf der Dinge nicht misszuverstehen. Mir gefällt der Ausdruck »Schriftstellerexistenz« nicht. Die hatte ein Thomas Mann. Aber was ist mit Leuten wie Dylan Thomas, mit William S. Burroughs, mit Jean Genet oder Pasolini? Schriftstellerexistenzen? Nein, das waren Leute, die alles riskiert haben. Auch das Schreiben.
K.WEST: Warum sind Sie noch einmal auf »Chuck« zurückgekommen?
WONDRATSCHEK: Das weiß ich nicht. Keine Ahnung. Das passiert manchmal, wenn man lange genug die Wände angestarrt hat und sich zu einem Spaziergang aufmacht, um nicht einzuschlafen. Ich vermute, dass es so gewesen sein muss. Was ist eigentlich aus dem Kerl geworden? Lebt er noch? Ich kannte ihn ja gut – und die ganze bekiffte Bande dazu aus meinen Gedichten, die ich in den 70er Jahren geschrieben habe.
K.WEST: Sie beschreiben in »Das Geschenk« Chucks Verhältnis zu seinem Vater als Duell, bei dem das Kind im Vorteil ist. Was macht es so stark?
WONDRATSCHEK: Es hat nichts zu verlieren. Das ist der entscheidende Vorteil. Es riskiert alles. Mein Vater hätte mich totschlagen müssen, um mich zu stoppen. Es gibt eine Grenze, die ein Vater respektiert. Nicht so das Kind. Es agiert im freien Fall.
K.WEST: Ist eine Vater-Sohn-Beziehung immer auch ein Kampf?
WONDRATSCHEK: Ich denke, ja. Es darf nur nicht zum Krieg kommen. Wenn das passiert, hat der Vater seine größte Niederlage vor Augen.
K.WEST: Schreibt es sich über Männer und Frauen leichter als über Söhne?
WONDRATSCHEK: Egal, worüber ich schreibe, es ist schwer. Es ist Schwerarbeit. In Ordnung, gut so! Es machte sonst keinen Spaß. Wie das Klingeln des Telefons mit dem Kondensstreifen in Beziehung setzen, den ein Flugzeug am Himmel zurücklässt? Wie das Weinen in der Wohnung unter mir mit dem Strauß gelber Tulpen, den ich gerade anschaue? Ich finde einen Zettel in der Jackentasche und lese (leicht mit Bleistift durchgestrichen) den Satz: Wer eine Offenbarung erwartet, drückt nicht die Stoppuhr. Darüber steht ein zweiter: Man wartet nicht mit der Stoppuhr in der Hand auf Wunder. Aha! Aber warum, aus welchem Grund habe ich den zweiten dem ersten Satz vorgezogen? Und warum überhaupt notiert? Es kann einen ganzen Tag kosten, darüber nachzudenken. Die Idee zu einem Roman? Das Atom einer Geschichte? Dass sich immer wieder Männer und Frauen in Geschichten einmischen, kann auch ich nicht ändern. Ich wünsche mir manchmal, sie ließen mich in Ruhe. Sie nehmen sich, finde ich, zu wichtig. Da kann man ja gleich zur Zeitung greifen.
K.WEST: Chucks Sohn liest seine Bücher nicht. Liest Ihr Sohn Ihre Bücher?
WONDRATSCHEK: Nein. Er liest überhaupt nicht.
K.WEST: Kränkt Sie das?
WONDRATSCHEK: Ich verstehe das. Es sind die Lehrer, die das vermasseln. Das System des Deutschunterrichts. Wir Schriftsteller sollten dieses System stürzen. Auf die Barrikaden mit uns. Wir wissen es besser – und tun nichts. Wir tun seit hundert Jahren nichts. Wir versagen dabei, unsere Kinder vor der Schule zu schützen. Das ist es, was mich kränkt: die eigene Unentschlossenheit, dagegen anzugehen. Schicken wir Lehrer in die Klassen, die neben Kenntnissen auch Einfälle haben, und Humor. Ich stelle mir einen Lehrer vor, der seiner Klasse einen Vers von Heinrich Heine präsentiert, sagen wir den: »Doch wenn du sprichst ›Ich liebe dich‹, so muß ich weinen bitterlich.« So Jungs, sagt er, helft mir. Allein schaff ich das nicht. Für so einen Unterricht und so einen Lehrer lohnte es sich zu kämpfen. Aber wir klagen lieber, dass keiner mehr unsere Bücher liest.
K.WEST: In Thomas Hettches Roman »Die Liebe der Väter« ist vom »Krüppelblick der verlassenen Väter die Rede«. In Ihrem Buch hat man, ganz im Gegenteil, das Gefühl, dass die Abwesenheit des Sohnes Raum schafft, der dann mit einer extremen Gefühlsintensität besetzt werden kann. Für eine Liebe, die unendlich traurig macht.
WONDRATSCHEK: Kommen Sie mir nicht mit »verlassenen Vätern«, das sind ganz traurige Gestalten. Wenn sie von etwas verlassen sind, dann von allen guten Geistern. Ich sehe sie jeden Tag überall, diese unfähigen, vom Kämpfen um das Besuchsrecht beschädigten jungen Männer, die am Wochenende ihre Kinder abholen. Wie ich die Kinder bedaure, die ihnen ausgesetzt sind. Da hat kein Kind eine Chance zu atmen, zu lachen, sich wohl zufühlen. Was natürlich nicht die Mütter entlastet, die, koste es, was es wolle, ihre Rechte wie einen Schatz verteidigen. Es ist, als hätte es die wunderbaren Jahre nie gegeben, als Kinder der ganzen Welt geboren wurden, einer Welt der Kinder.
Wolf Wondratschek, »Das Geschenk«Hanser, München 2011, 176 S., 17,90 EuroErscheinungsdatum: 7.3.2011
Wolf Wondratschek liest am 23.3. im Museum Folkwang, Essen, und am 24. und 26.3. im Rahmen der lit.Cologne in Köln.www.wolf-wondratschek.de