Eustache Nkerinka hat in seinem Leben mehr als nur eine Existenz verloren. Nicht nur ein Vermögen, dessen Verlust nach europäischen Maßstäben schon rechtfertigen würde, von einem tragischen Schicksalsschlag zu sprechen. Doch was ist das schon im Vergleich zur Ermordung eines Großteils der Familie? Was ist schon ein Bauunternehmen wert, wenn einem fünf Schwestern samt Familien umgebracht werden. Wenn man aus dem Heimatland Ruanda, wo Nkerinka seines Lebens nicht mehr sicher war, fliehen muss, mit nichts als der Hoffnung, in Deutschland wieder ruhig schlafen zu können.
Teile seiner Geschichte wird Eustache Nkerinka auf einer Theaterbühne erzählen. »Flüchtlinge im Ruhestand« heißt das Projekt, das die Regisseurin Mirjam Strunk für das Schauspiel Essen mit »Transitexperten« aus Bosnien, Burma, Deutschland, Indien, dem Kongo, Russland und Ruanda erarbeitet. Nkerinka ist einer dieser Experten, der über ein vermeintliches Leben im Ruhestand berichtet, auch, um sich die Zeit zu vertreiben. Der, um sich abzulenken, von eben jenen Grausamkeiten erzählt, die er nicht vergessen kann, seitdem er aus seiner Heimat geflohen ist. Wobei er keinen Zweifel daran lässt, dass es eine Rückkehr geben wird. »Koste es, was es wolle!« In Ruanda möchte er begraben werden, sagt der 1949 Geborene. Ausgeschlossen ist nicht, dass sein Leben vorher gewaltsam zu Ende gehen wird.
Obwohl seine Geschichte alles andere als komisch ist, hat sich Eustache Nkerinka eines bewahrt: Humor, der ihm im Gespräch über die Betroffenheit hinweghilft. Wie etwa bei der Frage, was er in Deutschland am meisten vermisse. »Sehr viel«, sagt Nkerinka – und lacht. Vielleicht auch deshalb, weil er in diesem Moment gar nicht weiß, womit er die Aufzählung beginnen soll. Also sagt er noch einmal »c’est beaucoup«, betont, dass Deutschland seine zweite Heimat geworden ist, dass er hier sehr viel Hilfe erfahren habe, das Leben hier aber, finanziell gesehen, elendig sei.
Eustache Nkerinka lebt seit 2004 von Hartz IV in Essen. Was ihm früher als Tagesbudget zur Verfügung stand, muss heute für einen Monat reichen. Früher, das fing vor fast 30 Jahren an. In einer Zeit, als Nkerinka noch nicht darum besorgt sein musste, heil durch die Geschichte seines Lebens zu kommen, die sich doch so vielversprechend anließ. 1979, als er damit betraut wird, in Japan die Botschaft Ruandas aufzubauen, ist er gerade mal 29 Jahre alt. Jung sei er gewesen, aber nicht unreif, sagt Nkerinka. Schließlich war er zu diesem Zeitpunkt doch immerhin schon vier Monate verheiratet. An der katholischen Universität in Leuwen hatte er Internationale Beziehungen studiert, in England Englisch. Bei den Vereinten Nationen in New York sammelt er erste praktische Erfahrungen, trifft Jimmy Carter und François Mitterand, Idi Amin, Gadaffi und Bokassa. Belgische Ministerien sind Etappen seiner diplomatischen Lehrjahre, das Außenministerium Ruandas vorläufige Endstation einer Bilderbuchkarriere.
Es war die Zeit, als sich Ruanda auf den langen Weg zur internationalen Anerkennung machte. Eustache Nkerinka sollte dem Land als Botschafter dabei helfen. Juvénal Habyarimana, wie Nkerinka zur Gruppe der Hutu gehörig, war im Dezember 1978 per Volkswahl zum Staatspräsidenten gewählt worden, fünf Jahre zuvor hatte er Grégoire Kayibanda weggeputscht; der eskalierende Konflikt zwischen Hutu und Tutsi, der die Geschichte Ruandas seit den 1950er Jahren bestimmt, war nicht befriedet, jedoch halbwegs unter Kontrolle gebracht. Die Lage im Land normalisierte sich langsam.
Für Eustache Nkerinka waren es gute Jahre, auch finanziell. So gute Jahre, dass er, zurück in Ruanda, aus dem diplomatischen Dienst demissionieren musste. Denn das Gehalt, das er als Botschafter verdient hatte, konnte er unmöglich in seinem Heimatland weiter beziehen. Gemessen an ruandischen Maßstäben, verdiente Nkerinka einfach zu viel Geld. Also gründet er ein Bauunternehmen, errichtet Straßen und Schulen, elektrifiziert entlegene Landstriche. Derweil sich die politische Lage in Ruanda stetig verschlechtert. Bis im Oktober 1990 die Tutsi-Rebellenarmee Ruandische Patriotische Front (RPF) die Regierungstruppen von Uganda aus angreift. Mit französischer, belgischer und zairischer Hilfe
hält die Armee der Attacke Stand, während die Regierung Habyarimana den innenpolitischen Druck auf oppositionelle Gruppen und Tutsi erhöht. Die internationale Hilfe zieht sich daraufhin teilweise aus Ruanda zurück. Die Probleme bleiben da.
Als die Dassault Falcon 50, mit der Habyarimana am 6. April 1994 von einer Konferenz aus Daressalam zurückkehrte, beim Landeanflug auf Kigali von Boden-Luft-Raketen abgeschossen wird, ist der Friedensvertrag von Arusha, der 1993 zwischen der ruandischen Regierung und der RPF ausgehandelt, jedoch nie eingehalten worden war, Geschichte. Knapp eine halbe Stunde später beginnen in Kigali die von langer Hand vorbereiteten Morde an Tutsi und oppositionellen Hutu. Schätzungsweise eine Million Menschen werden in den folgenden knapp 100 Tagen erschossen und erschlagen, vor allem mit Keulen, Knüppeln und Macheten. Der seit Monaten über die Medien rassenideologisch aufgeputschte Mob versucht in dieser langen Nacht auch in Nkerinkas Haus einzudringen. Denn Nkerinka engagiert sich als führendes Mitglied in dem oppositionellen Mouvement Démocratique Républicain (MDR), einer Gruppierung, der mehrheitlich Hutu, aber auch Tutsi angehören.
Noch heute fällt es Nkerinka schwer, von den Ereignissen zu erzählen, die dann folgen sollten. Von dem Fluchtversuch, den er zusammen mit seiner Frau unternimmt, über die Schutzmauer seines Anwesens, um sich eine Woche lang bei Nachbarn zu verstecken. Im Panzer versuchen sie Kigali zu verlassen, doch die Fahrt endet noch im Zentrum der Stadt, wo Milizen der Präsidentengarde der Nachbarsfrau den Kopf mit einem Beil abhacken. Auf einem Lastwagen, unter Soldaten auf dem Fußboden liegend, retten sich Nkerinka und seine Frau später in ein Militärcamp. Von dort geht es weiter mit einem Krankenwagen, in dem Nkerinka, als schwer verletzter Offizier getarnt, die Stadt verlässt.
Doch Nkerinka kehrt wieder zurück, wird im Dezember 1994 für den MDR ins Parlament gewählt. Mittlerweile haben die Tutsi die Macht in Ruanda übernommen. Jetzt, erzählt Nkerinka, werden Menschen »wie Fliegen« getötet. Die Repressalien, denen er sich ausgesetzt sieht, bleiben. Mitte der 90er Jahre bringt Nkerinka seine Familie nach Deutschland in Sicherheit, er selbst geht nicht. Hofft er doch, dass die Situation einem vorübergehenden politischen Zeitenwechsel geschuldet ist. Er wendet sich an Menschenrechtsorganisationen, schreibt Briefe an den Präsidenten des Parlaments und an den Staatspräsidenten. Die Antwort? Nkerinka dramatisiere doch wohl die Lage. Als Nkerinka im Juni 1997 aus dem Parlament zurückkehrt, wird sein Wagen von bewaffneten Zivilisten abgedrängt und angehalten. Mitten im Zentrum von Kigali. Allein den vielen umstehenden Pasanten verdankt Nkerinka an diesem Abend sein Leben. Man lässt ihn laufen, gibt ihm aber mit auf den Weg: »Heute sollte es nicht sein. Dann töten wir Dich eben beim nächs-ten Mal.«
Knapp zwei Jahre später sind es Offiziere, die plötzlich vor Nkerinkas Haustür stehen. Das Haus ist von Militärfahrzeugen und Soldaten umstellt. Die nächsten 24 Stunden verbringt Nkerinka in einem Gefängnis für Schwerverbrecher, kommt auf Intervention des Parlamentspräsidenten und des deutschen Botschafters wieder frei. Abends verkünden die Medien in fünf Sprachen, man habe belastende Beweise dafür gefunden, dass Nkerinka ein Landesverräter sei. Derweil andere die Zeit seiner Abwesenheit genutzt haben, sein Haus auszuräumen, in dem er dann unter Arrest gehalten wird, ohne Telefon, Radio und Fernsehen. Was man ihm lässt, ist die Bibel, die er in den folgenden Wochen und Monaten ausführlich studiert.
Ein halbes Jahr ist Nkerinka bei sich gefangen. Als er frei kommt, nimmt ihn ein beim Nachrichtendienst arbeitender Freund beiseite. Er sei dem Tod von der Schippe gesprungen. Nun sollte er das Land lieber verlassen. Am 25. September 1999 flieht Nkerinka mit einem kleinen Ruderboot über die tansanisch-ruandische Grenze. Fünf Jahre und zahlreiche Reisen später bezieht er im Essener Zentrum eine Wohnung. In einem Land, mit dem sich der Diplomat Nkerinka schon vorher auch durch dessen kulturelle Botschafter Beethoven und Kant vertraut gemacht hatte. Die Deutschen, so erzählte ihm der Großvater, der dem deutschen Militär in Afrika angehörte, sind aufrichtige Leute mit einem Hang zum Kategorischen. »Die hiesige Polizei«, sagt Nkerinka, »ist sehr korrekt. Bis heute hat mich noch niemand nach meinen Papieren gefragt.« Was das bedeutet, kann wohl nur jemand wirklich verstehen, der in seiner Heimat den Ausnahmezustand als Regel kennt.
Premiere am 7. März 2008 in der Casa. www.schauspiel-essen.de