Kahlschlag. Laublose Bäume und aufgepflanzte Kanonen verheißen eine Katastrophe. Noch poussieren die Wirtstochter Giselle und Albrecht, inkognito als Oberleutnant Albert, vor dem elterlichen Gasthof. Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs symbolisiert die äußere Katastrophe, während der Liebesverrat des bereits anderweitig gebundenen Albrecht das Mädchen zerbrechen lässt und ihr inneres Drama bildet. Der Klassiker »Giselle«, im Originallibretto nach Heine und Gaultier in einer deutsch romantischen Weinregion angesiedelt, wird vom Ballettchef der Deutschen Oper am Rhein ins Südfrankreich der Zeit 1914/18 verlegt. In seiner Neufassung des Stoffes zu Adolphe Adams Musik interessiert Youri Vàmos sich angeblich nicht für die Mesalliance des Paares, wobei dann aber doch die Offiziersgesellschaft samt Albrechts Verlobter Bathilde stark standesdünkelt. Vàmos wolle das ewige Leid von Lieben und Verlassen-Werden vertanzen. Dabei ist ihm die Perspektive verrutscht: Albrechts versehrte Seele (die Rolle des Treulosen, bei Valerio Mangianti ideal aufgehoben, wurde deutlich aufgewertet) liegt im Lazarett, während Giselle (Kaori Morito) ihm in einer Fiebervision erscheint.
Der erste Akt nimmt – im Duisburger Haus der Rheinoper – seinen bekannten Lauf, muss allerdings choreografische Klitterung aushalten. Vàmos verbindet darin sein eigenes pantomimisches, sperriges Vokabular mit der Ästhetik des Pariser Originals von 1841 der Herren Jean Coralli/Jules Perrot. Der herausragende zweite Akt aber macht alle der Epoche entliehenen Stummfilm-Gebärden vergessen. In der Kulisse (Bühne Michael Scott) eines verfallenen Herrenhauses, das zum Krankenlager umfunktioniert wurde, treffen die verwundeten Widersacher aufeinander. Ihr Konflikt legt Tiefenschichten frei, wenn sie sich langsam, spiegelbildlich und mit abgewandtem Körper, umkreisen. Der kippende Raum eröffnet eine surreale Dimension. Albrecht begegnen die Phantome von Giselle und ihrer Ebenbilder, die in filigraner Technik durch den in morbides Grün getauchten Raum gleiten. Ihr Pas de deux einer verlorenen Glücks ist zugleich Abschied von der Welt von gestern. TROUW