TEXT: SASCHA WESTPHAL
Das Schauspiel Dortmund ist im Gespräch, und das nicht nur in seiner Stadt und Region. Direktor Kay Vogesbeschreibt das Dortmund-typisch mittels klassischer Fußball-Analogie: »Wir werden jetzt national wahrgenommen, nicht als Top-Club, aber als ernstzunehmender Bundesliga-Verein.« Das war in Dortmund – anders als in der Nachbarstadt Bochum, dessen Schauspielhaus Jahrzehnt um Jahrzehnt zur Riege der Top-Clubs gehört hat – längst nicht immer so. In der beinahe 110-jährigen Geschichte des Schauspiels gab es kaum Phasen, in denen man sich mit dem großen Konkurrenten nebenan messen konnte. Sondern stand in dessen Schatten und wurde dort nicht selten übersehen.
So war es auch, als Voges das Haus 2010 übernahm. Die von 1999 bis 2010 reichende Ära des Vorgängers MichaelGruner war durch ein literarisches Theater geprägt, das punktuell Erfolge feiern konnte, aber nur selten weiterreichende Strahlkraft entwickelte. Zudem hatte sich in der zweiten Hälfte der Gruner-Jahre mit dem Schauspiel Essen noch eine andere, nahe liegende Bühne nach oben hin abgesetzt.
Die Spielzeit 2010/11 brachte den einschneidenden Wechsel, als Anselm Weber von Essen nach Bochum ging und Kay Voges Dortmund übernahm. Seither hat sich das Kräfteverhältnis verschoben. Dortmund spielt nun, wie Voges mit Stolz sagt, »mit in der Ersten Bundesliga« und muss sich vor den Nachbarn keineswegs mehr ducken. Davon zeugen nicht nur vermehrte Nennungen in Kritikerum-fragen zum Ende der Spielzeit 2012/13.
FAUST ALS EHRUNG
Ein weiteres Zeichen für die Achtung und Beachtung ist eine Nominierung für den deutschen Theaterpreis »Faust«, der am 16. November im Berliner Schiller Theater vergeben wird. In der Kategorie »Regie Schauspiel« tritt Voges’ Adaption von Thomas Vinterbergs Dogma-Film »Das Fest« gegen Luk Percevals Fallada-Bearbeitung »Jeder stirbt für sich allein« vom Thalia Theater Hamburg und Michael Thalheimers Horváth-Inszenierung »Geschichten aus dem Wiener Wald« am Deutschen Theater Berlin an.
Für den 41-jährigen Theatermacher sei es eine »wirkliche Ehrung, in einem Atemzug« mit den beiden Regie-Kollegen genannt zu werden, für sein Team auf und hinter der Bühne, das, wie er betont, »unglaublich arbeitet«, eine große Bestätigung: ein Zeichen, dass die Leistung wahrgenommen werde. Noch einmal bemüht Voges einen Fußball-Vergleich: »Da treten wir nun neben dem Thalia Theater und Deutschen Theater an. Und da muss man sagen, die haben Rasenheizung, wir haben einen Schotterplatz.«
Das Gefälle im deutschen Stadt- und Staatstheater ist enorm, das gilt nicht bloß für die finanzielle Ausstattung, da aber besonders. Doch das scheint in Dortmund kaum von Bedeutung zu sein. Gewiss arbeitet Voges im Vergleich zu Häusern wie den genannten in Hamburg und Berlin mit einem nahezu lächerlichen Etat von 1,6 Millionen Euro und einem verhältnismäßig kleinen Ensemble von 16 Schauspielern. Er und sein Team haben sich davon nicht schrecken lassen: »Wir fahren permanent im roten Bereich, schon die vierte Spielzeit. Das macht zum Teil auch die Energie aus, die wir von der Bühne runterspringen lassen.« Theater am Limit und darüber hinaus: eine Art Markenzeichen von Voges und dem Schauspiel Dortmund. Die Unbedingtheit, mit der sich alle in das Abenteuer Theater stürzen, ist in jeder Inszenierung zu spüren. Sie erfüllt selbst schwächere, weniger ausgereifte Produktionen, die es auch gibt.
EIN PORTRÄT IN DER BILD-ZEITUNG
Einen Tag, bevor wir uns in Voges’ funktional minimalistisch eingerichtetem Büro treffen, erschien in der Ruhrgebiets-Ausgabe von Bild ein kurzes Porträt über ihn und sein Haus. Auch Teil der neuen Aufmerksamkeit. Voges weiß nicht so recht, was er davon halten soll, schwankend zwischen Verwunderung und Stolz. Das Etikett »Theater-Punk« aber dürfte ihm gefallen. Damit sind wir wieder bei der Energie, dem Vorwärtsdrängen, das die vergangenen drei Spielzeiten und die neue Saison prägt. Nur sollte man bei Punk nicht nur an die Sex Pistols, die Ramones und die Toten Hosen denken, sondern auch an The Clash, die Dead Kennedys und die Goldenen Zitronen. »Für immer Punk« heißt nicht »für immer nur drei Akkorde«. Es ist eher Ausdruck einer Haltung, dazu gehört die Bereitschaft zum Experiment, zu Wandel und Verwandlung.
Durch die elf Inszenierungen, bei denen Voges seit seinem Antritt in Dortmund Regie geführt hat, zieht sich ein roter Faden. Auch für sie gilt, was Voges über die Gesamtkonzeption sagt: »Man geht ein Thema an, und aus dem Thema ergeben sich dann neue Fragestellungen. So sieht er nicht nur zwei Stücke im Zusammenhang wie »Nora« und »Gespenster« (2011/12), »Einige Nachrichten an das All« und »Endspiel« (2012/13) oder aktuell »Das goldene Zeitalter« und »Peer Gynt, sondern »das Ganze als gedanklichen Bogen, der weitergeführt wird. Wir unternehmen Forschungsreisen.«
Die Expeditionen haben Voges bei Wolfram Lotz’ »Einige Nachrichten an das All« fast von der Bühne fort gelenkt, die Inszenierung wurde zum experimentellen Film, auf der Bühne gerahmt von einem Prolog und etwas längeren Nachsatz. Beim »Fest« hat er die filmischen wie theatralen Mittel zusammengeführt. Das Spiel ist ein Live-Filmdreh, ein Theater der Großaufnahmen, das einen Sturm der Emotionen entfacht, der die Leinwand, auf die das Geschehen hinter ihr live projiziert wird, hinwegfegt.
Diesen Formaten stehen mit »Peer Gynt«, einer an Pirandello erinnernden Identitätsbefragung, die auch »Sechs Personen suchen Peer Gynt« überschrieben sein könnte, und seiner klaustrophobischen Einrichtung von Dennis Kellys Bühnen-Thriller »Waisen« andere, nahezu klassische Arbeiten gegenüber. In ihnen konzentriert sich Voges absolut auf seine Darsteller und deren Spiel. Experimente anderer Art, radikale Versuchsanordnungen der Ich-Suche wie des Ich-Zerfalls, in die das Publikum hineingezogen wird, um sich in Identitäts-Splittern und -Fragmenten zu spiegeln.
DAS PUBLIKUM MITGENOMMEN
Als Voges, der in Oberhausen als Regieassistent begann und am Ende der Intendanz Klaus Weise zum künstlerischen Leitungsteam gehörte, in Dortmund anfing, war seine Berufung zum Schauspieldirektor von Seiten der Stadt ein klares Bekenntnis zum echten Neuanfang. Aber Voges’ entschiedener Bruch mit der Vergangenheit (er übernahm aus Gruners Ensemble mit Jakob Schneider nur einen Schauspieler), ging Teilen des Publikums zu weit. Zu Beginn herrschte Skepsis vor. Die Stimmung war aufgeladen, gelegentlich offen feindselig. Doch das ist rasch verflogen. Voges: »Es ging ziemlich schnell, dass die Dortmunder gesehen haben, dass wir es ernst meinen mit der Leidenschaft und Hingabe.« Damals war das eine Überraschung.
Seither hat sich das Publikum gewandelt. Viele, die trotz Vorbehalts dem Haus treu geblieben waren, seien inzwischen »mit uns in neue Richtungen gewachsen und freuen sich darüber«. Wenn er mit »Lasst uns Kunst machen, ohne Angst zu haben!« sein Credo formuliert, schließt das neben seiner Mannschaft das Publikum mit ein. Die Bereitschaft, Wagnisse einzugehen und auch scheitern zu dürfen, sollte im Idealfall alle verbinden – über die vierte Wand hinaus.
Im Augenblick kommen das Schauspiel Dortmund und sein Publikum der Erfüllung dieser Vision recht nahe. Anders gesagt: »Ich glaube, ›Das goldene Zeitalter‹ zur Spielzeit-Eröffnung im ersten Jahr, dann wäre ich jetzt nicht mehr in Dortmund.« Man hat miteinander ästhetisch gelernt. Mit dem »Goldenen Zeitalter«, der enervierenden, verstörenden, beglückenden tour de force aus Loops und Wiederholungen, die Voges jedes Mal neu und live vom Regiepult in der achten Reihe aus inszeniert, treibt er es auf die Spitze. Für drei bis vier Stunden setzen sich Schauspieler und Zuschauer einem Prozess aus, der ins Bodenlose kippen kann. Näher als in diesen Vorstellungen, die Voges »Versuche« nennt, kann man der Entstehung von Kunst kaum kommen.
Die nächste Reise ins Unbekannte steht an. Zum ersten Mal inszeniert Kay Voges mit dem »Tannhäuser« eine Oper (Premiere: 1. Dezember im Dortmunder Opernhaus). Der »Theater-Punk« als Wagner-Regisseur freut sich, »herauszufinden, inwieweit sich meine Vorstellung von Oper, die mich berührt, mit dem verbinden lässt, was machbar ist. Kann ich das, und kann das System das?«