//__Sein oder Design? Die alte, aber unvermindert erkenntnishaltige Spontifrage drängt sich beim Anblick des herzchenförmigen Luftballons mit seinen digitalen Verfransungen virulent auf. Zumal hinter dem (garantiert ironiefreien) Motto »unvorhergesehen« ein Musik-Festival steht, das mit Namen wie Wayne Shorter, Luciano Berio, Benjamin Bagby, Maria de Alvear, Dave Douglas, Guo Wenjing, den New Yorker Philharmonikern oder der Pekingoper Shanghai wirbt. Es handelt sich also keineswegs um ausgesprochene Luftballonkünstler à la Anna Netrebko oder Nigel Kennedy. Andererseits wirkt die Liste der Genannten – und mit ihr das gesamte Programm der MusikTriennale 2007 – kaum »unvorhergesehen«. Denn nur selten entdeckt man beim Durchblättern der Broschüre neue Tendenzen des Musiklebens, die nicht schon die großen Festivals von Paris bis Berlin durchlaufen hätten.
Rekapitulieren wir kurz. Die MusikTriennale Köln wurde 1994 vom damaligen Philharmonie-Intendanten Ohnesorg gegründet, um dem weiland schon etwas verschlafenen städtischen Kulturleben zusammen mit dem WDR und der Stadt eine Vitaminkur zu verordnen. Ohnesorg überzeugte Geldgeber und Publikum, dass die Kombination von Glamour und Moderne nicht nur eine schöne Werbung für das kulturelle Image einer Stadt abgibt, sondern auch Publikum zieht – jedenfalls am Beginn des Unternehmens. So wurde in den ersten Ausgaben das schwindende 20. Jahrhundert oft von den Protagonisten selbst besichtigt: von Miles Davis und Kurt Masur, Mauricio Kagel und Liza Minnelli. Und weil der Konzerttempel ebenso Schauplatz war wie das alternative Loft, der Jazz und die freie Szene ebenso vertreten waren wie das kuratoriumgestützte Hochglanzereignis, produzierte das Festival das angestrebte Wir- und Selbstwertgefühl, mit dem die Kultur in der Domstadt wieder zum Event wurde.
Ohnesorgs Nachfolger Albin Hänseroth konnte das finanzielle Desaster der Triennale 2000 zwar nicht mehr abwenden (schließlich mussten die Verträge mit den teueren amerikanischen Orchestern erfüllt werden), doch rückte auch er von der Idee eines Festivals nicht ab, sondern stufte lediglich den philharmonischen Luxus herunter und wertete Nebenspielstätten auf. Die Tendenz setzt sich fort bei der diesjährigen Ausgabe der Triennale, die – unter Gesamtleitung des amtierenden Philharmoniechefs Louwrens Langevoort – am 27. April mit einem Konzert des »Ensemble InterContemporain« in der Philharmonie eröffnet wird. Als einziges erstrangiges Gastorchester schauen die New Yorker Philharmoniker mit ihrem Musikchef Lorin Maazel vorbei; ansonsten bestreiten WDR- und Gürzenich-Orchester fast allein das Orchesterrepertoire, flankiert von Spezialensembles wie der musikFabrik oder der London Sinfonietta.
Die thematischen Leitfäden sind so weitherzig gefasst, dass für jeden etwas dabei sein dürfte und selbst die Beschränkung aufs 20. und 21. Jahrhundert nicht mehr greift. »Improvisation« meint nämlich explizit Praktiken des Extemporierens von den Troubadours bis zum Jazz, von klassischer arabischer Musik bis zur Klanginstallation in den Gondeln der Kölner Seilbahn – ergo, im Jargon der Generation Luftballon, »ästhetische Buntheit in Hülle und Fülle« (Programmbroschüre, S. 63). Ein Wochenende ist der traditionellen und neueren Musik aus China gewidmet. Und die Leitfigur für die progressive Musik aus dem 20. Jahrhundert ist in dieser Saison der Komponist Luciano Berio. Damit setzt die MusikTriennale nach Luigi Nono ein weiteres Mal einen italienischen Pionier der Nachkriegs-Avantgarde ins Zentrum. Dass Berio (1925 bis 2003) stilistisch offener und spielerischer mit dem Material umging, dürfte ihn insgesamt »festivaltauglicher« machen als Nono. Berios Überzeugung, »dass Musik den Brotpreis nicht herabsetzen und Ungerechtigkeit nicht ausrotten kann«, machte ihn eher zum Antipoden des engagierten Kommunisten Nono, der mit seinen Werken in die Fabriken ging, um Arbeiter vom Aufbaugeist elektronischer Musik zu überzeugen.
Allerdings hat Berio seinen Zeitgenossen in punkto Vielseitigkeit der Genres und Besetzungen bei Weitem überholt. Die Quellen fand er nicht nur bei Webern und Schönberg, sondern auch in der italienischen Volksmusik, der der Sohn eines Kirchenmusikers eng verbunden blieb und der er einige seiner Hits wie die Folk Songs widmete. Der Darmstädter Schule um Stockhausen, Boulez und Nono stand Berio eher fern, denn ihm ging es auch in der neuen Musik um die Schönheit und Verständlichkeit der Sprache. »Sein Gesang gefiel den Göttern wie den Sterblichen, er zähmte wilde Tiere, rührte selbst die unbeseelten Wesen«, schrieb Berio einmal über den Urvater aller Musiker, den thrakischen Sänger Orpheus.
»Denn ist nicht alles, was man tut, zu überreden, zu überzeugen, um angenommen zu werden?« Diese Sätze treffen ziemlich gut Berios eigene Werke wie den wundersamen »Laborintus II«, mit dem die London Sinfonietta antritt. Werk und Titel entsprangen der Zusammenarbeit mit dem genuesischen Schriftsteller Edoardo Sanguineti, der bei der Triennale den Sprecherpart übernehmen wird.
Berios Stärke – der Umgang mit Sprache und die Verwandlung in Sprache – bestimmt die meisten der auf der Triennale angesetzten Werke, darunter die großformatige Sinfonia, die er 1969 während seines längeren Aufenthalts in den USA beendete. Die fünf Sätze des Werks für acht Stimmen und großes Orchester spiegeln den politischen Aufruhr der Studentenrevolte wider, etwa wenn Berio im zweiten Satz den Namen des ermordeten Schwarzen-Führers Martin Luther King verarbeitet. Politische Plakate und linke Parolen hat Berio jedoch schon damals abgelehnt.
Was er von der Musik forderte, war die Fähigkeit zum Selbstzweifel, die ständige Überprüfung der eigenen ästhetischen Position. »Ich bin nicht an einer Vorstellung von ›Werk‹ im Sinne eines fertigen Objekts interessiert, das man im Wohnzimmer aufstellen kann«, schrieb er später. »Ich habe bei ›Werk‹ eher eine Reihe von Zeichen im Sinn, die den richtungweisenden Punkt einer Strecke, eines Weges erhellen. Ein Werk bedingt jeweils ein anderes, eine andere Erfahrung. Es kann niemals in sich abgeschlossen sein.«
Diese Idee vom Werk (und vom Leben) als Zyklus und Neuformulierung prägt ganze Werkreihen. In seinen 14 Sequenzen für Solisten, die am 19. Mai bei der Triennale in einem Konzertmarathon gegeben werden, lotet Berio die Ausdrucksmöglichkeiten seines Instrumentariums aus – oder (in der »Sequenza III«) der Stimme, der er Spezialtechniken wie Flüstern, nasale Laute, Lachen, Keuchen, Hecheln, Husten oder sonstige halb-theatralische Aktionen abfordert.
Nach Berios Rückkehr aus den USA übertrug ihm Pierre Boulez für sieben Jahre die Leitung der elektroakustischen Abteilung am neu gegründeten Pariser Forschungsstudio IRCAM. 1986 gründete er mit »Tempo Reale« (Echtzeit) sein eigenes Experimentierstudio in Florenz. Dabei suchte er stets den Austausch mit Gleichgesinnten aus anderen Sparten: mit dem Linguisten und Schriftsteller Umberto Eco oder mit dem Architekten Renzo Piano, der ihn über den Zusammenhang von Architektur und Musik nachdenken ließ. Es ist der Berio-Reihe in Köln zu wünschen, dass sie von dieser Offenheit und Vernetzung des Denkens Einiges spüren lässt.
27. April bis 20. Mai 2007; www.musiktriennale.de